Kapitel 5

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5 Jahre zuvor

Es war ein sonniger Tag und Noraja durfte nach sechs Monaten endlich die Klinik verlassen. Sie trat mit Remi an ihrer Seite, aus der Tür des Krankenhauses, als er sie plötzlich an der Schulter packte und zurückhielt.
„Bist du dir sicher? Fühlst du dich wirklich fit genug?", fragte er.
Noraja war genervt, die Fragen hörte sie seit einer Woche.
„Ja und wenn mich das noch einmal jemand fragt, raste ich aus. Was soll mir denn noch passieren? Geht es denn noch schlimmer?", raunte sie ihn an.
Keine Antwort von Remi, nur ein besorgter Blick.
„Also, dann los jetzt. Ich will hier weg", sagte sie.
Noraja riss sich aus seinem Griff und lief los. Einige Meter vor dem Krankenhaus standen fünfundzwanzig Biker, ordentlich in einem Halbkreis aufgereiht.
Alle starrten auf Noraja, als würden sie einen Geist sehen und eigentlich war sie das auch. Sie war für wenige Minuten tot gewesen, denn ihr Körper hatte den Kampf ums Überleben aufgegeben. Wissentlich hatte sie aufgegeben, alles losgelassen und sich in die Dunkelheit ziehen lassen. Sie wollte nicht mehr leben. Aber sie hatten es geschafft und sie zurückgeholt. Wochen der Schmerzen, Tiefschläge und Trauer lagen hinter ihr und immer noch wusste sie nicht, ob sich diese wirklich gelohnt hatten oder ob sie einfach von der nächsten Brücke springen sollte, um es endlich zu beenden.
Jetzt stand sie hier. Vor ihrer Familie, die sie nicht einen Tag allein gelassen und alles mit ihr zusammen durchlebt hatten.
Noraja ließ ihren Blick über die Menschen, die immer noch zu ihr standen, gleiten. Da war sie nun, in einem völlig neuen Leben, was sie sich nicht ausgesucht hatte, sondern in welches sie hineingeworfen wurde. Einen Weg zurück, gab es nicht. Von ihrem alten Leben war nichts mehr übrig, außer Erinnerungen und Schmerz.
Remi trat an sie heran.
„Deine Schwester wartet schon vor Ort auf dich, sie wollte noch irgendetwas vorbereiten."
Damit riss er Noraja aus ihren Gedanken und dafür war sie ihm dankbar. Sie lächelte ihn an.
„Na dann sollten wir starten. Sie wird immer so unleidlich und läuft grün an, wenn ich zu spät komme", sagte Noraja und lief auf das Bike zu, welches in der Mitte stand.
Ein Gefühl von Freiheit und Ruhe stellte sich in ihr ein. Sie setzte den Helm auf und startete den Motor.
Remi deutete seinen Brüdern an, dass es losging und dass er neben ihr fahren würde. Die ersten zehn Bikes setzten sich in Bewegung, dann kamen Noraja und Remi, der Rest schloss hinter ihnen auf. Noraja genoss den Wind, der unter ihr Shirt fuhr. Die Freiheit, die sie immer beim Fahren spürte und die Liebe, die von allen Seiten auf sie strahlte, sorgten dafür, dass sie sich seit Monaten, das erste Mal wieder lebendig fühlte.
Sie fuhren eine gute Stunde, bis sie am Meer ankamen. Von diesem Punkt aus gab es nur noch einen Weg. Eine Brücke, die zu einer Insel führte, die man von Weitem nur erahnen konnte. An der Seite stand ein Schild.
Zufahrt Verboten, Privatbesitz.
Die Biker hatten eine Lücke gelassen und so setzte Noraja sich an die Spitze der Kolone. Mit einem komischen Gefühl im Magen fuhr sie das aller erste Mal auf ihre Insel. Die Fahrt dauerte eine weitere halbe Stunde, doch dann waren sie endlich da und sofort wusste sie, dass der Weg sich gelohnt hatte.
Sie stellte das Bike ab, zog sich den Helm vom Kopf und war völlig überwältigt von diesem Anblick. Ihre Schwester kam auf sie zu gerannt und sprang sie förmlich an.
„Ich bin so froh, dich zu sehen", sagte Franzi. Ihr stiegen Tränen in die Augen, denn auch ihre Schwester, hatte lange Zeit Angst gehabt, dass es zu diesem Tag nicht mehr kommen würde.
Franzi und Noraja konnten ihre Verwandtschaft nicht abstreiten, auch wenn sie sich in Haar- und Augenfarbe unterschieden. Franzi war ein Stück größer als Noraja. Sie hatte leuchtend grüne Augen und leichte Sommersprossen um die Nase. Sie hatte rote, lange, lockige Haare und einen Körperbau, von dem jede Frau träumte. Sie hatte eine weibliche Figur und war bis auf die letzte Muskelfaser durchtrainiert. Genau wie Noraja hatte sie einige Tattoos und Piercings über die Jahre gesammelt.
Das wohl auffälligste Tattoo von Franzi war ein Rabe. Der sich von ihrem Nacken, über ihre Schultern, bis hoch zum Hals ausbreitete und nur, wenn man genau hinsah, konnte man, die darunter versteckten, Narben erkennen. Auch waren sie sich in ihrem Charakter sehr ähnlich und liebten es mit einer Gesunden Ihr-könnt-uns-alle-mal- Einstellung durchs Leben zu laufen. Franzi hatte Noraja den Arm um die Hüfte gelegt und so standen die Schwestern nebeneinander auf der Insel und ließen ihre Blicke über die Landschaft schweifen.
Man hatte das Gefühl, dass hier Magie am Werk war und dass gleich Elfen und Kobolde an ihnen vorbeigehüpft kommen würden.
Es war ein völlig unberührtes Stück Natur. Die Insel war recht ebenerdig. Es gab leichte Hügel und nur am hinteren Ende der Insel stand eine Felswand. Soweit man sehen konnte, gab es grüne Wiesen, bunte Blumen, tausend verschiedene Gräser und in Richtung der Felswand gab es sogar ein Stück Wald. „Und all das gehört dir", sagte Franzi und strahlte ihre Schwester an.
„Du meinst uns", erwiderte Noraja.
Ihre Schwester nickte und für eine Weile standen sie einfach nur da und ließen alles auf sich wirken.
Franzi hatte sich um Getränke und Essen gekümmert und so konnte die erste Party in Norajas neuem Leben gefeiert werden. Und genau das taten sie auch. Sie tranken, tanzten und schmiedeten Pläne, was man mit so einer Insel alles anfangen konnte.

Noraja wachte am nächsten Tag als Erste auf und schlenderte über die Insel. Sie fand eine Erhöhung, von der aus man einen Großteil der Insel überblicken konnte. Sie bemerkte nicht, dass Remi sich näherte, und zuckte zusammen, als er sich neben sie setzte. „Sorry, wollte dich nicht erschrecken."
Noraja sah ihn liebevoll an.
„Alles gut, war nur in Gedanken."
Remi sah sie traurig an.
„Wie geht es dir?"
Noraja stöhnte auf.
„Du weißt noch, was ihr mir alle versprochen habt? Ich will diese Frage nicht mehr hören. Ich will nicht immer mein Leid klagen und schon gar nicht lügen müssen! Ich melde mich, wenn sich an dieser Tatsache etwas ändert", sagte Noraja gereizt.
Remi musste schmunzeln. Sie hatte trotz allem ihren sturen Kopf und ihren Humor nicht verloren und das bewunderte er ernsthaft an ihr.
„Ich denke, es hätte ihm hier gefallen", sagte Remi und sah auf das Meer.
Noraja stiegen Tränen in die Augen und sie ließ diese einfach ihre Wangen hinunterlaufen.
„Ja, das hätte es", erwiderte sie und sah zu Remi.
Er war ein attraktiver Mann.
Groß, stark, lange schwarze Haare, die er zu einem Zopf gebunden hatte. Die Seiten seines Schädels waren glattrasiert und aufwendig tätowiert. Er hatte graue Augen, welche seine weiche und liebevolle Seite zeigten, aber auch all das Schlechte, was er schon erlebt hatte. Er trug einen Vollbart, der ihm bis zur Brust reichte und dadurch fast vollständig die Brandnarbe an seinem Hals versteckte. Er bekam sie am selben Tag, wie Noraja ihre und das, obwohl sie sich Meilen voneinander entfernt befanden. Remi trainierte seit Jahren und war ein Berg von Mann. Er war der Inbegriff von Stärke und Mut. Doch gleichzeitig war er einer der liebevollsten, einfühlsamsten und selbstlosesten Menschen, den Noraja kannte. Das waren einige der Gründe, warum Noraja sich so freute, dass er und ihre Schwester, nach Jahren endlich verstanden hatten, dass sie zusammengehörten. Er war der VIZE-Präsident von den Walhalla Fighters. Einem Motorradclub, der zu Norajas Familie geworden war. Seit vielen Jahren verbrachte sie Zeit mit ihnen und verliebte sich in dieses Leben. So kam auch Franzi in den Club und lernte Remi kennen. Und so waren ihre leibliche Familie und ihre gesuchte Familie wieder ein Stück mehr miteinander verflochten.
„Remi? Ich will, dass du mit dem Club, hier auf der Insel euer neues Clubhouse aufbaut und wenn Franzi und du Interesse daran habt, ein Haus für euch", sagte Noraja, ohne ihn dabei anzuschauen.
Er drehte sich zu ihr und schüttelte den Kopf. „Nein, Nora, das wäre zu viel. Das musst du nicht für den Club tun. Du bist uns nichts schuldig. Im Gegenteil, wir werden unsere Schuld bei dir nie begleichen können", sagte Remi und Trauer schwang in seiner Stimme. Nora ... sie hasste es, wenn man sie so nannte. Remi und ihre Schwester waren die Einzigen, die es sich wagten, und mittlerweile hatte Noraja auch aufgegeben zu protestieren deswegen.
„Ihr seid mir nichts schuldig, Remi. Keiner von euch, aber ich weiß, dass ihr das anders seht und ich weiß, dass ich daran auch niemals etwas ändern werde. Aber ihr habt kein Clubhouse mehr und ich habe eine Insel mit viel Platz und Abgeschiedenheit. Dann wünsche ich mir halt, dass ihr hier, mit mir, gemeinsam neu anfangt und ich meine Familie so immer in meiner Nähe habe. Er hätte es so gewollt", sagte Noraja und sah ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an.
Remi konnte sich sein Lächeln nicht verkneifen.
„Du weißt immer noch genau, welche Knöpfe du drücken musst, um zu gewinnen, oder? Ich bring es an den Tisch, aber ich denke nicht, dass einer was dagegen haben wird", sagte er. Mehr wollte Noraja nicht hören, sie umarmte ihn und flüsterte ihm ein leises „Danke" ins Ohr.
Sie stand auf und lief zurück zu den anderen, bevor Remi noch etwas sagen konnte.
Nach diesem Tag gab es unzählige Treffen mit dem Club, Bauunternehmen, Architekten und was sonst noch alles so dazu gehörte, wenn man sich seine eigene kleine Welt erbauen wollte. Und wenn Geld keine Rolle spielte, war so ziemlich alles möglich. So dauerte es genau zwölf Monate und viele Flaschen Tequila und Jack Daniels, bis alles genau an der Stelle stand, wo Noraja es haben wollte. Neben dem Büro und ihrem Haus hatte das Clubhouse, einige Bungalows, ein Ferienhaus und eine Werkstatt ihren Platz auf der Insel eingenommen. Remi und Franzi hatten sich auch dazu entschieden, ein Haus bauen zu lassen, und somit war die ganze Familie auf der Insel vereint. Die Bauten lagen alle mindestens einen Kilometer voneinander entfernt, sodass keiner dem anderen auf die Nerven gehen konnte und trotzdem alles schnell zu erreichen war. Remi war Besitzer und Betreiber der Werkstatt, Franzi kümmerte sich um die Büroangelegenheiten und ein Teil von Remis MC Brüdern waren ebenfalls in der Werkstatt angestellt. Am ersten Abend, als alle gemeinsam auf die Insel zogen, feierten sie das Ganze mit allem, was dazu gehörte. Literweise Alkohol, gutem Essen, Drogen, Musik und jeder Menge Sex. An jenem Abend wurde die Insel offiziell benannt und seit diesem Tag lebten alle voller Stolz in Boxajas Walhalla.

Noraja - Dead Or Alive ✔️Where stories live. Discover now