Kapitel 4

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In der Ferne hörte man plötzlich Motorgeräusche, welche immer lauter wurden. Noraja stand auf und stellte sich wieder an das Geländer. Jason tat es ihr gleich und versuchte, die Quelle des Lärms ausfindig zu machen. Und nach wenigen Sekunden sah er sie, Motorräder und nicht nur eins, sondern fünfzehn Stück. Sie kamen näher und als sie kurz vor dem Haus waren, hob Noraja die Hand und grüßte die vorbeifahrenden Biker. Jeder Einzelne erwiderte den Gruß, entweder durch Handzeichen oder durch Hupen. Sie fuhren an dem Gebäude vorbei und verschwanden nach wenigen Sekunden aus ihrem Sichtfeld. Als die ersten Biker das Büro passierten, stutzte Jason. Auf dessen Rücken stach ihm die Aufschrift: Walhalla Fighters MC. Brotherhood, entgegen.
Er sah zurück zu seiner Tasse und erst jetzt fiel ihm auf, dass derselbe Schriftzug auf dieser zu finden war. Ein Motorrad Club also.
Er musterte Noraja aus dem Augenwinkel heraus und fragte sich, was sie wohl mit denen zu schaffen hatte. Als alle vorbei waren, drehte sich Noraja wieder zu Jason. „Wie sieht es aus, noch irgendwelche Fragen? Ansonsten würde ich dich jetzt an Melina entlassen", sagte sie.
Jason war kurz überrascht, dass sie kein Wort zu den Bikern verlor. Nahm es aber so hin. Was hatte er auch für eine Wahl? Wobei die Neugierde in ihm zurück war und er sie liebend gern danach gefragt hätte. Doch er wollte den Bogen nicht überspannen, also beließ er es dabei.
„Nein, erst mal nicht, aber falls doch, würde ich mich einfach noch mal melden", sagte Jason.
„Klar kein Thema. Wie gesagt, Melina kann dir deinen Aufgabenbereich sicher auch noch etwas genauer erklären. Ansonsten soll sie dir einen Vertrag fertig machen und falls du den Job willst, dann melde dich einfach", antwortete Noraja.
Jason nickte, woraufhin sie gemeinsam zu Melina gingen und ihr die freudige Nachricht übermittelten.
„Na Odin sei Dank. Ich dachte schon, ich muss mit Baby arbeiten kommen", sagte Melina, sichtlich erleichtert und mit einem wissenden Lächeln im Gesicht.
Jason setzte sich zu ihr und Melina begann damit, sich um den Vertrag zu kümmern. „Na dann, war nett. Auf dass wir uns wieder sehen", sagte Noraja und sah ihn an.
„Ich glaube, ich sollte dir nochmal danken und sorry nochmal für mein eigenartiges Verhalten. Ich werde mich auf jeden Fall bei euch melden", gab Jason zurück.
Sie lächelte Jason ein letztes Mal an und richtete sich dann an Melina.
„Ich bin dann ab jetzt im Wochenende, solange kein Weltuntergang ausbricht, bin ich mal nicht zu erreichen", sagte Noraja.„Alles klar Chefin, dann Frohes... was auch immer du vorhast", sagte Melina und zwinkerte ihr zu.
Noraja ging zur Treppe und Jason konnte nicht anders, als ihr hinterher zu starren. Erst als sie verschwunden war, richtete er seinen Blick wieder zu Melina.
Die hatte das Ganze beobachtet und grinste ihn nur breit an. Jason sah peinlich berührt zum Boden. Weitere Worte dazu waren wohl nicht mehr nötig.
„Hast du noch Fragen?", fragte Melina und sah zu ihm.
Er verneinte nur. Er hatte zwar hunderte Fragen, die ihm durch den Kopf gingen, aber er wusste, dass er keine Antworten mehr aufnehmen konnte.
„Gut, dann der Vertrag und eine Karte mit unseren Handynummern, dann kommst du direkt bei Noraja oder mir raus. Lass dir Zeit mit deiner Entscheidung. Ein paar Tage habe ich ja noch, bis ich meine Arbeit niederlegen muss und andere Bewerber gibt es aktuell auch nicht", sagte Melina und reichte ihm die Unterlagen.
„Das werde ich. Danke."
Er verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. Doch bevor er es aufsperrte, blieb er stehen und sah sich erneut um. Fasziniert ließ er seinen Blick ein letztes Mal über die Umgebung gleiten. Die letzten Stunden fühlten sich so unwirklich an. Diese Insel, Noraja, dieser Job, alles wirkte wie ein wahrgewordener Traum, doch irgendwo tief in ihm, keimte etwas auf, was seine Freude dämpfte. Nichts so Wunderbares konnte ohne Haken daherkommen, die Frage war nur, welcher hier auf ihn wartete.

Noraja lief den Weg in Richtung ihres Hauses entlang und ihre Gedanken wanderten zu Jason. Irgendwas an ihm war anders. Verbarg er etwas oder spielte ihr Misstrauen gegenüber Menschen hier einfach nur wieder ein übles Spiel mit ihr? Er war nett und das erste Mal hatte sie das Gefühl, dass sie jemanden gefunden hatte, mit dem eine Zusammenarbeit nicht unmöglich schien. Doch sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sich ein Motorrad näherte und schließlich neben ihr anhielt. „Hy Babe!", kam es unter dem Helm hervor geraut.
„Brauchst du vielleicht eine Mitfahrgelegenheit? So ein heißes Teil wie du, sollte hier nicht so allein rumlaufen, hier sind böse Jungs unterwegs", sagte der Biker.
Noraja drehte sich herum, schlug ihm auf die Rückseite seines Helms und grinste.
„Das einzig Böse, was auf dieser Insel wandelt, bin ich Remi, das solltest selbst du langsam verstanden haben", sagte sie.
Remi hatte derweilen den Helm abgenommen und breitete seine starken Arme aus, um Noraja zu umarmen, und ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.
„Ja ich weiß. Fürstin der Finsternis!", sagte er lachend, bis er Norajas blaues Auge sah. Sofort verschwand sein Lachen und sein Blick wurde dunkel.
„Holy Shit, hast du die Deckung vergessen? Verfluchte Scheiße. Sollte Bobby nicht auf dich aufpassen? Ich bring ihn um!!!", brüllte Remi.
Noraja rollte die Augen, dieses beschissene Veilchen. Für die ganzen dummen Fragen heute, würde sie dem Typen am liebsten noch eine verpassen, aber dazu würde es keine Gelegenheit mehr geben. Sie schnaubte.
„Nein, er hatte einen Schlag frei, damit er wenigstens das Gefühl hatte, es würde ein fairer Kampf werden und lass Bobby in Ruhe. Er hat auf mich aufgepasst und hat mir den Rücken freigehalten, während ich diesem Arschloch Manieren eingeprügelt habe", sagte sie.
Remi schüttelte den Kopf, weil er sich nicht sicher war, ob es ein Witz oder die Wahrheit war. Bei ihr war beides möglich.
„Ich werde Bobby trotzdem fragen, warum du ein blaues Auge hast", knurrte Remi. „Lass ihn in Ruhe, habe ich gesagt, sonst darf ich bald gar keinen Spaß mehr haben", maulte sie und boxte ihm auf den Oberarm.„Aua", sagte Remi und rieb sich über den Arm.
„Ach heul nicht, Prinzessin", raunte sie und streckte ihm die Zunge raus.
„Womit hab ich dich verdient?", fragte er.„Das weiß wohl nur Odin", sagte Noraja und ging einen Schritt auf ihn zu.
„Na ja, da du jetzt eh schon hier rumstehst, kannst du mich tatsächlich mitnehmen, dann spare ich mir das Gelaufe", sagte Noraja zu Remi und war bereits dabei, sich auf seinen Schoß zusetzen.
„Natürlich Chefin, Clubhouse oder Castle Noraja?", fragte er.
Remi hatte nur einen Sitz, deswegen machte er bereitwillig Platz, sodass Noraja sich rücklings auf seinen Schoß setzen konnte. Seinen Helm hatte er am Handgelenk hängen, wodurch die beiden sich direkt ansehen konnten.
Noraja schmunzelte.
„Castle Noraja. Ich brauch erst mal noch eine Runde Schlaf, eh ich mich mit euch beschäftigen kann", sagte sie.
Remi grinste breit.
„Wie Sie wünschen."
Er legte den Gang ein und zog am Gas, sodass, Noraja mit ihrer Stirn auf seiner Brust landete und dort direkt liegen blieb. Sie griff um seine Hüfte und presste sich fest an ihn. Die Fahrt dauerte keine zehn Minuten, aber Noraja genoss es und dachte darüber nach, wie glücklich sie sich eigentlich schätzen konnte. Sie besaß eine eigene Insel, eine gut laufende Firma und eine selbst ausgesuchte Familie, die immer für sie da war und doch spürte sie nach all der Zeit diesen dunklen Schleier auf ihrer Seele. Die Hoffnung, diesen jemals zu verlieren, hatte sie längst aufgegeben. Es war ein Teil von ihr und damit musste sie sich wohl oder übel abfinden.
Remi hielt vor Norajas Haus an und ließ sie absteigen.
„Bis später?", fragte er.
Sie gähnte, nickte dann aber.
„Klar, auf ein Bier."
Beide lachten laut auf, denn sie wussten, es würde nicht bei einem bleiben.
Remi fuhr weiter und Noraja bahnte sich den Weg zur Haustür. Als sie diese hinter sich schloss, erwartete sie eigentlich eine stürmische Begrüßung von Dumm und Dümmer, aber nichts passierte. Sie sah die offene Balkontür. Typisch Männer. Hauptsache die Alte ist pünktlich zu Hause, wenn Fütterungszeit ist, dachte sie sich.Ihre Schuhe und den Hoodie zog sie aus und warf sie achtlos in eine Ecke. Sie schlenderte in die Küche, nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und ging dann weiter ins Wohnzimmer.
Sie blieb stehen und atmete tief ein. Kurz ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen, den sie so liebte. Über die linke Seite erstreckte sich eine Glasfront, wie schon in ihrem Bad. Von hier aus konnte sie denselben Ausblick genießen, wie in der oberen Etage. Die restlichen Wände waren aus Holz, an denen Fackeln hingen. Ein riesiges Bücherregal erstreckte sich über eine davon und er Fußboden bestand aus massiven grauen Steinplatten. In der Mitte des Zimmers stand das Herzstück. Eine Couch, so groß, dass locker sechs Personen ausgestreckt darauf liegen konnten. Um zu dieser zu gelangen, musste man drei Stufen nach unten steigen und unmittelbar davor befand sich eine Feuerstelle. Der gesamte Raum war schlicht eingerichtet und abgesehen von einem Fernseher an der Wand und einer Soundanlage, gab es nichts weiter zu finden.
Noraja ließ sich auf die Couch fallen und sofort spürte sie wieder die Müdigkeit in sich aufsteigen. Als sie auf die Uhr sah, stöhnte sie.
Vier.
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass es schon so spät war und dass Freitag war, wurde ihr erst bewusst, als die Biker gefahren kamen. Aber die Couch war zu gemütlich und ein paar Minuten Entspannung wollte sie sich trotzdem gönnen. Sie ließ sich in die Kissen fallen, zog sich eine der Decken über den Kopf und schon war sie tief und fest eingeschlafen. Verfolgt von sich selbst und ihrer Vergangenheit.

Noraja - Dead Or Alive ✔️Where stories live. Discover now