Ich gehe auf River zu, die auf der langen Seite des Sofas sitzt und mit überkreuzten Beinen in die Luft starrt. Sie ist nicht annähernd so nervös wie Mato oder Jesper, zumindest kann ich es nicht spüren, dennoch macht sie sich Sorgen. Ich lasse mich neben ihr nieder und küsse kurz ihre Schläfe, bevor ich ihre Hand nehme und sich unsere Finger miteinander verschlingen. Ihre blauen Augen suchen meine und sie lächelt mir kurz entgegen. Es ist schön, dass ich das nun machen kann. Der Drang sie zu berühren und ihre Haut unter meiner zu spüren ist immer noch sehr groß, aber kleine Gesten wie ein verstohlener Kuss oder Händchen halten, mildern den Drang vorerst.
“Sie kommen“, informiert uns Clayton und alle Blicke richten sich auf ihn. Mein bester Freund verharrt noch eine Weile in seiner Position, bevor er sich vom Fenster abwendet und auf die Armlehne neben Mato setzt.
Okay, in ein paar Minuten sollten wir erfahren, wie sich der Konflikt zwischen Henry und uns entwickeln wird. Ich sollte nicht zu viel erwarten, es ist immer noch Henry über den wir hier sprechen. Aber hoffen kann ich, ein bisschen Hoffnung müssen wir haben.

Die Tür geht auf und wenig später erscheinen Ian und Noah im Wohnzimmer, dicht gefolgt von den beiden Brüdern. Von keinem der vier Gesichter kann ich ablesen, ob es positiv oder negativ verlaufen ist. Noah lässt sich neben Mato nieder und Ian bleibt mit verschränkten Armen vor der Brust im Raum stehen.
“Wie ist es gelaufen?“, frage ich an ihn gewandt und seine braunen Augen begegnen meinen.
Er zuckt mit den Schultern und antwortet: “Sie haben uns noch nichts erzählt.“
“Wir wollten euch allen gemeinsam von dem Gespräch berichten“, erklärt Luke während er sich auf den Sessel gegenüber des Sofas setzt. Er möchte weiter reden, doch die Haustür wird geräuschvoll geöffnet und Luke verstummt.
Wenig später kommt Olivia bloß in BH und einer kurzen Hose bekleidet in den Raum gestürmt und fällt Ian in die Arme. Er ist zuerst überrascht und gerät ins Wanken, doch kann sich halten und legt seine Hände auf ihren nackten Rücken.
“Mach langsam Baby“, flüstert er in ihre lilanen Haare und ich könnte schwören ein raues Kichern unter seinen Worten heraus zu hören.
“Scheiße, das machen wir nie wieder. Entweder wir gehen gemeinsam oder gar nicht. Ich sag dir, so schrecklich habe ich mich noch nie gefühlt“, sagt sie und nimmt das Gesicht ihres Gefährten zwischen die Hände und zieht es zu sich, um ihn innig zu küssen.
River neben mir muss sich ein Lachen verkneifen und auch ein Blick in die Gesichter der anderen Anwesenden verrät mir, dass sie die Szene amüsant finden.
“Ist ja gut“, nuschelt Ian und versucht mit Mühe Olivia von seinem Mund zu entfernen. “Geh dir was anziehen, dann können wir uns anhören, was bei dem Gespräch herausgekommen ist.“ Ian kratzt sich verlegen über seine blonden kurzen Haare.
“Schon gut. Ich bin sicher alle hier haben bereits ein Frau im BH gesehen“, antwortet sie spitzzüngig und verschwindet dann mit einem kleinen Lächeln im Gesicht aus dem Raum.
“Kein Wort“, ermahnt Ian, als Mato gerade etwas sagen möchte, doch dieser hebt entschuldigend und mit einem breiten Grinsen die Hände.

Als Olivia, die sich ein T-Shirt übergezogen hat, wieder bei uns ist, richtet sich die Aufmerksamkeit aller auf die beiden Brüder und die Stimmung wird noch angespannter.
“Die gute oder schlechte Nachricht zuerst?“, fragt Luke und stützt sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln ab.
“Gute. Wir brauchen alle ein paar gute Nachrichten“, antwortet Clayton.
“Okay, Henry hat nicht vor irgendeine Gegenmaßnahme bezüglich des heutigen Vorfalls zu starten. Er möchte den Jungen wieder haben und wäre einverstanden damit auch den Vorfall mit River ruhen zu lassen.“
Klingt nicht sehr positiv. Wir müssten unser einziges Druckmittel freilassen. Wofür? Warum sollte Henry Gegenmaßnahmen ergreifen, wenn ein Mitglied unseres Rudels angegriffen wurde?
“Und die schlechte Nachricht?“, fragt River unruhig.
Ich befürchte keinen von uns wird gefallen, was wir gleich zu hören bekommen.
Luke seufzt entkräftet auf und wirft seinem Bruder, der neben ihm auf der Armlehne des Sessels Platz genommen hat, einen Blick zu.
“Henry ist nicht bereit die Revierkämpfe sein zu lassen“, antwortet Luke schnell.
Ich schnaufe aufgebracht und schüttel den Kopf. Überrascht es mich überhaupt? Henry ist ein sturer Bock, er wird uns nie in Frieden leben lassen.
“Und dafür wart ihr so lange weg? Was habt ihr überhaupt besprochen?“, möchte Olivia verzweifelt wissen, die sich von Ians Seite gelöst hat und nun abwartend Luke und Dean anschaut.
“Henry ist sehr speziell. Wir haben versucht ihn zu überreden und haben all unseren Charme spielen lassen. Aber keine Chance. Bei dem Kerl rennt man gegen verschlossene Türen“, erklärt sich Dean.
“Schon gut. Es hätte glaube ich alle überrascht, wenn ihr mit etwas positiveren nach Hause gekommen wärt“, gestehe ich und wechsle einen wissenden Blick mit Clayton. Wir haben geahnt, dass es so ausgehen wird, doch keiner wollte es wahr haben. Unfassbar, dass wir uns ständig im Kreis drehen.
“Ich verstehe nicht, warum er es auf euch abgesehen hat“, überlegt Dean laut und seine Stirn legt sich in Falten. “Hat einer von euch ihn jemals verärgert? Kanntet ihr euch? Vielleicht noch als jemand von euch in seinem alten Rudel war?“
“Nein, wir stammen alle aus anderen Rudeln, teilweise Bundesstaaten von hier entfernt und einige sogar über die Landesgrenzen hinaus. Henry war schon immer so“, antworte ich ernüchternd.
Keiner von uns hat je etwas Henry oder seinem Rudel getan. Wir haben diese Möglichkeit schon oft in Betracht gezogen, dass er eine persönliche Fehde gegen einen von uns hegt, doch wenn es so wäre, wüssten wir nicht wer der Betroffene sein sollte.

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