“Luke und Dean müssten in zehn Minuten hier sein“, informiert mich Len und setzt sich neben mich auf den Holzboden der Veranda. Diesen Platz habe ich als meinen Lieblingsort auserkoren. Von hier aus kann ich alles beobachten und in Ruhe nachdenken.
Nikan und Clayton sind vor einer Weile mit dem Jeep losgefahren, um die beiden Brüder am Waldrand abzuholen. Sie könnten uns auch so hier finden, doch da es keine richtigen Straßen gibt, zeigen Nikan und Clayton ihnen den besten Weg durch die Bäume.
“Mir wurde erzählt, dass du als Erster bei uns am Fluss warst. Ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie dieser Moment für dich war?“ Seit gestern habe ich angefangen mit den anderen über das Ereignis zu sprechen. Es hilft mir dabei es zu verarbeiten und hoffe so auch den anderen helfen zu können. Da ich die meiste Zeit bewusstlos war oder mich nur verschwommen an Kleinigkeiten erinnern kann, kann ich eigentlich nicht so viel dazu sagen. Doch die anderen haben es gesehen. Mein Blut. Meinen Körper. Die Angst. Ihre Berichte helfen mir dabei die Lücken zu füllen und helfen hoffentlich auch ihnen, den Schreck zu verarbeiten.
“Es ging alles wirklich sehr schnell. Als ich am Fluss angekommen bin, habe ich mich vergewissert, dass dein Herz noch schlägt und dein Blutverlust nicht hoch ist. Weil ich wusste, dass die anderen jede Sekunde auftauchen werden, habe ich Olivia geholfen den Kleinen in Schach zu halten. Nikan kam als nächstes an. Er hat sich noch im Flug verwandelt und ist neben deinem Körper auf die Knie gefallen. Nachdem auch die anderen uns erreicht haben, bin ich hier her zurück, um alles vorzubereiten. Ich wusste, dass deine Wunden gereinigt und eventuell auch genäht werden mussten. Es hat nicht lange gedauert, da hat dich Jesper rein getragen und zu mir auf den Tisch gelegt.“ Lens braune Augen schweifen in die Ferne ab und er kratzt sich nachdenklich an der Stirn. “Ich haben mir einen Überblick über deine Wunden verschafft. Die Kratzer an den Rippen haben nicht mehr geblutet und waren nicht so tief, also habe ich mich um deine Schulter gekümmert. Jesper hatte glaube ich mit seinem Shirt die Blutungen auch dort größtenteils gestoppt. Danach war eigentlich alles Routine. Säubern, Nähen und Verbinden. Du scheinst noch mal Glück gehabt zu haben, dass deine Verletzungen bereits heilen und sich nicht entzündet haben.“
Ich antworte auf seine Worte nicht und nehme mir einen Moment, um das Gesagte einzuordnen. Ständig wird von Blut gesprochen. Überall muss Blut gewesen sein. Selbst nach Stunden hatte ich noch Blut an mir. Nikans Hände waren ebenfalls voller Blut. Auch der Küchentisch schien voll damit gewesen zu sein, denn nun steht an dem Platz ein anderer. Viel größer und neuer. Antonio und Mato haben ihn gebaut wurde mir gesagt. Der alte zu Kleinholz gemacht und bereits verbrannt.
“Träumst du von dem Tag?“, frage ich nach einer Weile und schaue den Blondhaarigen neben mir besorgt an. “Nikan träumt davon meine ich. Er hat es mir nicht gesagt, aber ich weiß es. Ich sehe es in seinen Augen. Vermutlich schläft er deshalb so wenig.“
“Nein, ich träume nicht davon. Aber manchmal sehe ich dich vor mir liegen. Reglos am Fluss meine ich. Das Blut hat mich nicht gestört. Mein Vater war der Heiler unseres Rudels und ich habe ihm oft assistiert“, erklärt er und seine Augen landen wieder auf mir.
“Du stammst aus dem Norden, richtig?“ Das hellbraune Fell seines Wolfes lässt zumindest darauf schließen. Ich habe ihn einmal in seiner Wolfsform gesehen, als er von der Patrouillie wieder kam. Andere aus dem Rudel habe ich noch nicht gesehen. Vermutlich ist das meine Schuld, denn ich habe meine zweite Gestalt auch noch niemanden gezeigt. Bevor ich dies allerdings tun werde, wird es noch eine Weile dauern. Zu erst müssen meine Wunden heilen und dann möchte ich mich gemeinsam mit Nikan verwandeln. Es wäre bestimmt schön, wenn ich den nächsten Schritt wage. Ich weiß, dass er mich nie darum bitten würde, weil er mir Zeit gibt, doch ich denke, dass ich nun soweit bin.
“Ja, Jesper und ich kommen aus Kanada. Wir sind im selben Rudel aufgewachsen.“ Der Gedanke treibt ihm ein verträumtes Lächeln ins Gesicht.
“Und ihr wurdet trotzdem verstoßen? Die Söhne zweier Familien aus dem selben Rudel?“
“Ja, wir hatten Männerüberschuss könnte man sagen“, antwortet er und lacht bitter auf, während er ungläubig den Kopf schüttelt. “Unser Rudel war nicht besonders groß. Kleiner als Silvers oder Henrys, aber ein bisschen größer als dieses. Im Grunde war es das gleiche Problem wie hier. Zu viele Männer, zu wenig Frauen. Als sich dann drei Monaten nach meinem sechzehnten Geburtstag herausgestellt hat, dass Jesper mein Gefährte ist, war das Maß wohl voll. Jesper war damals neunzehn und war mit einem Mädchen, ebenfalls aus unserem Rudel, zusammen. Eines der wenigen jungen Paare, die für Nachwuchs gesorgt hätten. Doch als Jesper gemerkt hat, dass sich die Gefährtenverbindung zwischen uns aufgebaut hat, hat er mit dem Mädchen Schluss gemacht und sich quasi an mich gekettet. Ich habe geahnt, dass unsere Verbindung zu Problemen führen würde, nicht weil wir zwei Jungs waren, sondern weil wir dem Rudel keine Welpen schenken würden. Ich habe ihm gesagt, dass es okay für mich wäre, wenn er mit dem Mädchen zusammen bleibt und für Nachwuchs sorgt, doch er hat sich geweigert. Damals war ich sogar sauer, weil ich nicht verstehen wollte, wie er so selbstsüchtig sein konnte. Heute bin ich froh, dass er nicht auf mich gehört hat.“ Len lächelt und während er mir seine Geschichte anvertraut, fährt er mit den Fingern die Masserung des Holzes auf dem Boden der Veranda nach. “Wir haben es geschafft einige Wochen geheim zu halten. Als wir gesehen haben, wie sauer seine Eltern auf ihn waren, dass er sich von seiner Freundin getrennt hat, wollten wir nicht noch mehr Stress im Rudel verursachen. Aber wir haben es nicht lange ausgehalten und konnten die Finger nicht mehr voneinander lassen. Es gab schon den ein oder anderen, der misstrauisch geworden ist, aber als wir uns markiert hatten - du musst wissen wir waren Teenager und unsere Gedanken von Hormonen gesteuert - gab es keinen Grund mehr für Zweifel. Wir haben zueinander gestanden, auch als von uns verlangt wurde, uns mit anderen zu verpartnern und wurden in Folge dessen aus dem Rudel geschmissen. Danach haben wir eine Weile nur zu zweit verbracht, unseren Abschluss gemacht, ich in einer Praxis gearbeitet und Jesper eine Ausbildung als Koch angefangen, bis wir dann von einem Rudel gehört haben, dass Wandler wie uns aufnimmt.“
Ich bin sprachlos.
Meine Gedanken wollen einfach nicht begreifen, dass unsere Welt so schlecht ist. Dieses Rudel ist nur entstanden, weil es Geschichten wie Lens und Jespers gibt. Sie waren Teenager, von ihren Eltern verstoßen und auf sich allein gestellt.
Unfassbar.
“Zu meiner Mutter habe ich noch Kontakt“, fährt Len fort, als ich nichts erwidere. Aber was kann ich auch schon sagen? Sicherlich hat er genügend tröstende und entsetzte Worte zu hören bekommen. Mir ging es jedenfalls so und ich könnte wetten, dass die anderen ähnliche Geschichten zu berichten hätten. “Wir telefonieren an den Feiertagen und Geburtstagen miteinander. Ich weiß von ihr auch, dass sich die Situation im Rudel stabilisiert hat und uns angeboten wurde zurückzukehren.“
“Aber ihr seid hier geblieben.“ Was hätte ich wohl in seiner Lage getan? So einfach zu verzeihen wäre die Ablehnung nicht gewesen. Ob ich meinen Eltern verzeihen könnte, dass sie zugelassen haben, dass uns so schlimme Dinge passiert sind? Ich weiß es nicht.
“Wir hatten bereits eine Familie. Eine, die uns nicht wegen unserer Beziehung verstoßen hat, obwohl ihr das gleiche Schicksal bevorstand. Wie könnten wir da jemals zurück kehren? Hier geht es uns gut.“ Len lächelt nun vor sich hin. Ein Lächeln, dass sich in seinem ganzen Gesicht ausbreitet und zeigt. Die kleinen Fältchen und die Augen, die schmaler werden. Ein Grübchen, dass sich auf seiner blassen Wange abzeichnet.
Ja, das ist Glück. Er ist wahrlich glücklich und zufrieden. Diese Familie bedeutet ihm alles und ich kann es ihm nicht verdenken. Die Loyalität, die mir in diesem Rudel begegnet ist, habe ich noch nie zuvor so intensiv erlebt.
“Würdest du zurück zu deiner Familie gehen?“, fragt Len neugierig und ich schüttel sofort den Kopf.
“Würden meine Eltern sich vom Rudel distanzieren, dann vielleicht. Aber das wird nie geschehen. Sie sind so aufgewachsen und können sich eine andere Welt gar nicht vorstellen. Es ist wohl besser so. Außerdem bin ich jetzt hier und ich habe nicht vor zu gehen.“ Allein der Gedanke Nikan oder einen der anderen nicht mehr in meinem Leben zu haben, ist unvorstellbar und treibt mir eine Gänsehaut den Rücken hinauf.
“Es ist schön, dass Nikan und du euch näher kommt. Versteh mich nicht falsch, ich respektiere deine Entscheidungen, aber ich weiß auch, wie schwer es ist seine Gefühle zu unterdrücken.“ Seine braunen Augen schauen mir wissend entgegen und er fährt unsicher mit einem Finger den Kragen seines weißen Shirts entlang, als hätte er Angst mit seinen Worten eine Grenze überschritten zu haben.
“Meine Gefühle habe ich auch unterdrückt. Nikans Anziehungskraft auf mich war wirklich schwer zu ignorieren, besonders weil er an mir geklebt hat wie eine Klette“, bringe ich unter einem Lachen hervor. Diese Zeit scheint so weit entfernt, dass es schwer vorstellbar ist, dass erst ein paar Wochen vergangenen sind. “Aber ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Gefährten dazu da sind, Nachkommen für das Rudel zu produzieren. Ich weiß heute, dass das Blödsinn ist, aber ein Teil von mir kann sich nicht von dem Gedanken lösen.“
Len nickt verstehend und schaut mich dann musternd an. Seine Augen wandern über mein Gesicht und verweilen dann.
“Du hast Schmerzen“, stellt er fest, doch ich schüttel sofort den Kopf.
“Nein, ich habe wirklich keine. Seit dem du die Fäden gezogen hast, fühlt es sich nicht mal mehr unangenehm an.“
“Das meine ich nicht. Du hast Schmerzen hier drin“, erklärt er und deutet dabei auf seinen Kopf und ich bezweifele, dass er damit wirkliche Kopfschmerzen meint. “Du hast nie angefangen zu heilen. Hast du überhaupt mit jemanden über das gesprochen, was dir passiert ist?“
“Nachdem wir bei Silver gelandet sind, habe ich ihr anfangs erzählt, was passiert ist. Ganz grob nur, sie weiß wie es im Süden aussieht und konnte es sich wohl schon denken. Mit meiner Schwester Mara habe ich gelegentlich über alte Freunde oder schöne Momente gesprochen. Nicht alles war immer schlecht. Olivia und Freja, eine Freundin von uns, habe ich gesagt, was sie wissen wollten, wenn sie danach gefragt haben.“ Mein Blick hat sich abgewendet. Ich kann Len nicht in die Augen schauen, wenn er mich so durchdringend betrachtet, als würde er alle schlechten Momente meines Lebens entdecken können.
“Und wann hast du von dir  aus über das gesprochen, was passiert ist?“ Als ich nichts sage, ist dies Antwort genug. “Du kannst jederzeit mit mir reden wenn du möchtest, aber du musst bereit dafür sein. Du selbst musst entscheiden, dass du deine Vergangenheit hinter dir lässt, denn wenn du sie in dir begräbst, wird dich das irgendwann ersticken.“
Ich weiß das. Zu dieser Erkenntnis bin ich selbst vor einiger Zeit gelangt. Anfangs, als Mara und ich es aus dem Rudel raus geschafft haben, wollte ich nichts mehr damit zu tun haben. Ich habe alle Erinnerungen unterdrückt und die Albträume ignoriert. Irgendwann habe ich beschlossen, dass es nicht mehr so weiter gehen kann, aber da war es schon zu spät. Dass ich alles unterdrückt und ignoriert habe, hat dafür gesorgt, dass ich nicht mehr darüber reden kann. Es fällt mir schwer auf jemanden zu zugehen und sich ihm anzuvertrauen. Allein schon der Gedanke daran, jemand zu erzählen was passiert ist, lässt meine Hände schweißnass werden und mein Herz vor Panik rasen. Ich habe es bei Nikan erst neulich versucht, doch es hat einfach nicht funktioniert.
“Danke“, murmel ich und ergänze dann etwas lauter: “Dass du mir anbietest mit dir zu reden. Aber ich glaube ich brauche noch mehr Zeit.“
“Wenn du eins bekommen kannst, dann ist es Zeit. Bis dahin habe ich immer ein offenes Ohr für deine Sorgen oder auch einfach nur so. Aber vielleicht bin ich auch nicht der Richtige, dem du dich anvertrauen kannst. Es könnte dir leichter fallen, wenn du mit jemanden sprichst, der ähnliches durchgemacht hat. Mato ist auch nicht sehr offen, was seine Vergangenheit betrifft.“
Darauf antworte ich nichts und wir beide verfallen in ein nachdenkliches Schweigen. Mit Mato zu reden ist mir auch schon in den Sinn gekommen, aber vielleicht möchte er gar nicht über Vergangenes reden. Nur weil ich eventuell bereit bin, über meine Erlebnisse zu erzählen, muss er es noch lange nicht sein und vielleicht möchte er sich meine Geschichte auch nicht anhören. Es könnte ihn triggern oder selbst an schlechte Zeiten erinnern.

Es dauert nicht lange und wir können aus der Ferne Motorengeräusche hören. Der Schall trägt die Geräusche von Baum zu Baum und verrät uns, dass die zwei Fahrzeuge noch etwa ein halbe Meile von der Siedlung entfernt sind. Da die eine Hälfte des Rudels auf Patrouille ist und die andere Hälfte schläft, sind es nur wir zwei, die zum Empfang unserer Gäste bereit stehen.
“Kennst du die Brüder?“, frage ich Len, während ich von der Veranda aufstehe und mir den Staub von meiner rostfarbenen Culotte abklopfe.
“Persönlich nicht, aber ich weiß, dass sie früher gute Freunde von Nikan waren, bis das alles hier dazwischen gekommen ist“, erklärt er und steht ebenfalls von seinem Platz auf.
Was das angeht, muss ich unbedingt mit Nikan sprechen. Es würde mich interessieren wie er die beiden kennengelernt hat und wie seine Allianz mit Silver zu Stande gekommen ist, obwohl es offensichtlich Reibereien zwischen ihm und ihren Söhnen gibt.

Als erstes sehe ich den schwarzen Jeep, der dem Rudel gehört und mit dem ich hier angereist bin. Dahinter erkenne ich Lukes dunkelblauen Pickup Truck. Beide Fahrzeuge parken ein paar Meter von dem Haus entfernt. Dann steigen Clayton und Nikan aus, dicht gefolgt von Dean und Luke.
“Hast du mich vermisst?“, kommt es prompt von Dean als er mich erblickt und grinsend seine Arme ausbreitet, um mich mit einer Umarmung zu begrüßen.
“Deine Gefährtin wäre mir lieber gewesen, aber da du einmal hier bist, werden wir das Beste drauß machen“, antworte ich lachend und falle ihm um den Hals. Natürlich habe ich ihn vermisst. Dean weiß das auch, aber das ist eben unsere Art. Wir necken uns und sind dennoch Freunde. Mehr als das. Wir sind Familie.
“Das nächste Mal bringe ich sie mit, versprochen“, flüstert er mir zu, während er mir über den Rücken streicht.
Nachdem wir uns wieder voneinander lösen, begrüße ich auch Luke mit einer Umarmung und frage: “Wie geht es Daisy und Ahyoka? Ich hoffe der kleine Wirbelwind hält euch nicht zu sehr auf Trab.“ Den letzten Satz unterstreiche ich mit einem Augenzwinkern.
“Alles wie immer. Daisy vermisst dich und Ahyoka geht es den Umständen entsprechend.“
“Den Umständen entsprechend?“ Ist etwas passiert, seit ich weg bin?
“Stimmt, du weißt es noch gar nicht. Wir wollten es allen nach der Zeremonie verkünden, aber du bist dann schon weg gewesen. Sie ist schwanger“, berichtet er mir und seine grünen Augen fangen wahrlich an zu funkeln.
“Das ist ja wunderbar! Herzlichen Glückwunsch!“ Für die tollen Nachrichten, umarme ich Luke gleich nochmal und er antwortet lachend: “Danke, ich hoffe nur dass die Morgenübelkeit bald nachlässt.“
Aus seiner Stimme kann ich einen sorgenvollen Klang erkennen und ich ziehe misstrauisch die Augenbrauen zusammen.
“Warum bist du dann überhaupt hier?“
“Ich wollte erst gar nicht gehen, aber Ahyoka hat mich daran erinnert, dass ich bald Alpha werde und dies Entscheidungen mit sich bringt, die mir nicht immer gefallen werden. Außerdem hat sie gemeint, dass sie mit oder ohne mich über der Kloschüssel hängen wird“, antwortet er und kratzt sich lachend am Kopf.
“Okay, richte ihr von mir herzliche Glückwünsche und alles Gute aus. Ich hoffe ihr geht es bald wieder besser.“

MoonshadowWhere stories live. Discover now