Kapitel 15

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Sie war wunderschön wie immer. Ihre langen, braunen Haare fielen vollkommen durchnässt auf ihre Schultern und sie zitterte vor Kälte. Oder etwa doch vor Schmerz? Ihr Anblick erfüllte mich und tat dennoch weh. Sie so zu sehen war furchtbar. Ehe sie auch nur ein Wort sagen konnte, war ich schon bei ihr und zog sie fest in meine Arme. Ich hob sie leicht an, um sie in das Haus zu tragen und ließ sie auch dann nicht los, als sie zu Schluchzen begann. Schluchzer erschütterten ihren ganzen Körper und ich drückte sie noch fester an mich.

„Evan“, wisperte sie, doch mein Name ging halb unter ihren Schluchzern unter. „Alles okay. Du bist in Sicherheit“, erwiderte ich. Sie schlang noch einmal ihre Arme um meinen Hals und ich ließ sie hinunter, um sie anzusehen. Sanft legte ich meine Hände an ihre Wangen und suchte nach blauen Flecken, doch ich konnte keine finden. Wenigstens eine gute Nachricht.

Und dann küsste ich sie. So fordernd, dass sie für einen kurzen Moment zurücktaumelte. Sie erwiderte den Kuss, wischte sich anschließend über die Wange und ließ sich von mir ins Wohnzimmer leiten. „Setz dich.“

„Ich werde Kaffee machen“, sagte Thea und eilte in die Küche. Für einen kurzen Moment hatte ich ihre Anwesenheit vergessen.

„Was ist passiert?“ Ich wollte Elenor nicht überfordern, aber ich musste wissen, wem ich weh tun musste. Ich nahm direkt neben ihr Platz, sodass sich unsere Knie berührten. Diese leichte Berührung allein sorgte dafür, dass mein Herz schneller schlug. Wie oft hatte ich mir gewünscht sie neben mir auf dem Sofa zu haben. Am Leben. Der Tag war gekommen. Doch Elenor war aufgelöst und ich machte mir sorgen.

„Hier.“ Thea streckte Elenor die Tasse Kaffee entgegen. Sie konnte nicht wissen, dass Elenor Kaffee nicht ausstehen konnte. Elenor nickte jedoch dankbar und nahm trotzdem einen Schluck. „Wie konntest du fliehen?“ Thea war ähnlich wenig einfühlsam wie ich. Sie wollte Antworten, die nur Elenor uns geben konnte. Ich strich dem Mädchen, das ich liebte, über den Rücken und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

„Es war Rodrigo. Ein alter Geschäftspartner meines Vaters. Ich weiß nicht, warum mein Vater Rodrigo vor ungefähr zehn Jahren gefeuert hatte, aber er war wütend gewesen. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, wie sie sich stritten und Rodrigo einige Drohungen aussprach. Dann hatten wir nie wieder von ihm gehört. Als ich dort bei ihm war…“ Sie schluckte und mein Herz hämmerte wie verrückt. „… er hat nur davon gesprochen, sich an meinem Vater rächen zu wollen und dass er mich dafür bräuchte. Dann hat er plötzlich einen Anruf bekommen. Es schien sehr ernst zu sein. Denn er hat mich einem seiner Handlanger überlassen, der mich dann in einen dunklen Raum sperrte. Ich hatte furchtbare Angst. Doch dann, ganz plötzlich, kam dieser Typ rein. Ich kannte ihn nicht. Doch er sprach davon, dass mein Vater immer gut zu ihm war und er nur durch ihn seine Familie hatte retten können… ich konnte ihm kaum folgen. Und dann hat er mich plötzlich losgebunden. Ich dachte es wäre eine Falle und ich bin mir nicht sicher, ob es nicht immer noch eine ist. Ich bin um mein Leben gelaufen, bin sicher stundenlang im Wald rumgeirrt. Auf einer Straße hielt dann eine Frau an und rief die Polizei. Ich habe ihnen schon alles erzählt und ein Detective hat mich dann zu deiner Adresse gefahren.“ Erneut verließen Tränen ihre Augen. „Evan, das war bestimmt eine Falle. Dieser Rodrigo führt etwas im Schilde.“ Ich griff nach ihrer Hand.

Es war gut möglich, dass dieser Typ, der Elenor befreit hatte, es nur getan hatte, weil Rodrigo etwas Großes plante. Aber es gab auch die Möglichkeit, auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering war, dass er die Wahrheit über Elenors Vater gesagt hatte. Aber würde er dafür sein Leben riskieren? Ich wechselte einen Blick mit Thea. Auch sie schien unsicher.

„Elenor, dir wird nichts mehr passieren. Vertrau mir.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln.

„Mein Bodyguard huh?“

„Für immer.“

 

Da stand sie. In meinem Zimmer. Sie beäugte das große Bett zögerlich und fuhr über das weiche Lacken. „Du hast ein schönes Haus.“ Ich hatte sie mit meinem Smartphone herumgeführt, doch in echt sah das Haus noch mal ganz anders aus.

„Danke.“ Ich ging einen Schritt auf sie zu und küsste sie auf die Schulter. Sie schenkte mir ein Lächeln. „Ich leg dir schnell ein Handtuch raus. Dann kannst du duschen.“ Sie nickte und sah sich noch weiter im Zimmer um.

„Ist das zweite Zimmer Lous?“, fragte sie flüsternd, da ich immer einen Spalt von Lous Tür offenließ. „Ja. Ich bin froh, dass sie etwas schlafen kann“, sagte ich. Elenor folgte mir zum Badezimmer. „Falls du noch etwas brauchst, sag Bescheid. Ich weiche nicht von der Tür.“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Du musst hier nicht warten“, sagte sie. „Ich werde nicht von dieser Tür weichen.“, sagte ich erneut und sie widersprach kein zweites Mal. Als ich das Wasser der Dusche hörte, lehnte ich mich an die Tür und atmete tief durch. Ich konnte es immer noch kaum glauben. Sie war hier. Gesund. Einige Fragen hatte ich jedoch noch. Hatte man ihr weh getan? Eine Frage, die mich innerlich aufzufressen schien. Ich verspürte das Verlangen nach Rache. Ein Verlangen, dass ich schon seit der Verhaftung Todd Wesleys nicht mehr in diesem Ausmaß verspürt hatte.

Nach geschätzten zwanzig Minuten verließ Elenor endlich das Badezimmer. Gemeinsam liefen wir zurück in das Schlafzimmer. Sie konnte kaum ihre Augen aufhalten, als sie sich auf das Bett setzte und die Decke auf sich zog. Ich setzte mich neben sie und musste augenblicklich an den Tag denken, an dem ich sie in ihrem Bett geküsst hatte. Nichts war zu diesem Zeitpunkt in meinen Leben richtig gelaufen, aber das schon. Der Kuss schon.

Elenors Blick lag auf mir. Sie fuhr sich durch das nasse Haar und rückte näher an mich heran. Mein Verlagen nach ihr in diesem Moment war unermesslich, aber ich wollte nicht zu weit gehen. Nicht nach allem, was geschehen war. Also küsste ich sie, zog sie an meine Brust und ließ uns beide auf dem Bett nieder.

„Ich liebe dich, Elenor Wesley.“

Sie fuhr mir über die Wange. „Und ich liebe dich, Evan.“

 

Rescue - Für die Stimme in der DunkelheitWhere stories live. Discover now