Dreizehnte Verzierung

206 21 4
                                    

Flucht

„You can escape everything, but how will you manage to run away from your own self?"

Kurz nach dem Telefonat mit meinem Großvater bitte ich Gerrit um seine Mitschriebe aus unserem gemeinsamen Wahlmodul, damit ich schon nach meinem Seminar am frühen Morgen zu meinen Großeltern fahren kann. Als er mir versichert, dass ich seine Unterlagen bekomme, packe ich mir einen Rucksack mit den wichtigsten Sachen, gehe duschen und lege mich letztendlich hin, nur um mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wieso Vahap mich wohl so abweisend behandelt hat. Dafür würde ich mir am liebsten ins Gesicht schlagen, denn egal aus welchen Gründen er so gehandelt hat, hat er mich verletzt. Tief verletzt. Irgendwann muss ich bei meinem Gedankenchaos eingeschlafen sein, denn ich öffne meine Augen erst dann wieder, als mein nervtötender Wecker ertönt und mich zum Aufstehen drängt.

Das Seminar nehme ich nur unterbewusst wahr — heute ist definitiv nicht mein Tag und das müssen die Menschen so akzeptieren.

Meine anschließende zweistündige Zugfahrt und die viertelstündige Straßenbahnfahrt in Kassel verläuft schneller als ich in Erinnerung habe. Ich kann nicht genau erklären, woran es genau liegt, doch erfüllt mich ein unglaubliches Wohlgefühl, sobald ich in der Heimatstadt meiner Mutter ankomme, sodass ich meine negativen Gedanken vom Morgen verwerfe. Auch wenn ich nicht hier gelebt habe, kenne ich die wichtigsten Straßen dieser Stadt auswendig.

Als ich vor dem Haus meiner Tante ankomme, das sie und ihr Ehemann vor etwa fünfzehn Jahren von meinen Großeltern abgekauft haben, muss ich breit lächeln. Seitdem leben meine Großeltern mit der Familie meiner Tante zusammen. Dieses Haus birgt all die Kindheits- und Jugenderinnerungen meiner Mutter und ihrer Milchbrüder. Aus diesem Grund haben meine Tante und ihr Mann vieles so beibehalten, wie meine Großeltern es einst eingerichtet hatten.
Einige Minuten nach meinem Klingeln öffnet meine Tante die Haustür — wie man sie kennt — breit lächelnd und schaut mich anschließend überrascht an. „Mina mein Engel, willkommen", sie zieht mich in eine Umarmung und streicht mir über den Rücken. Mit geschlossenen Augen erwidere ich ihre zärtliche Umarmung und lächle breit. „Versteh mich bitte nicht falsch", sie macht eine Pause, als sie zur Seite tritt und mir den Eingang freimacht, „aber wieso bist du hier? Ihr versammelt euch doch dieses Wochenende." Die Stirn meiner Tante ist in Falten gelegt und sie schaut mich irritiert an.

Unter normalen Umständen sind die Wochenenden, an denen wir uns mit unserer Großfamilie treffen, völlig ausgebucht. Man kann gar nicht erst an etwas anderes denken, als die Zeit miteinander zu verbringen. Unter normalen Umständen.

Gerade als ich zum Reden ansetzen will, betritt mein Großvater den Flur. „Sie ist hier, weil ich sie gerufen habe. Ich habe dieses wunderschöne Gesicht vermisst", mein Opa breitet die Arme zu beiden Seiten aus und fordert mich somit stumm zu einer Umarmung auf. Er ist der einzige, dem ich glaube, wenn er mir Komplimente macht. Ich eile auf ihn zu und lasse mich in seine Arme fallen. „Danke", flüstere ich in sein Ohr und drücke ihm einen Kuss auf die Wange. Er lacht leicht, hakt sich bei mir ein und zieht mich mit sich ins Wohnzimmer. Meine Großmutter, die gerade auf dem Sofa sitzt, strahlt breit, als sie mich neben ihrem Ehemann erblickt. „Da ist ja meine Schönheit", ihre freudige Stimme alarmiert mich dazu, dass ich auf sie zulaufe und sie in die Arme nehme. „Wie geht's dir anneanne? (Großmutter, mütterlicherseits)", frage ich sie. „Mir geht's gut, aber mich interessiert brennend, was dich belastet, sodass du heute hier auftauchst. Aber bevor du erzählst, bereiten wir dir Frühstück vor. Du hast abgenommen", ihre rechte Hand legt sich auf meine Taille und der prüfende Blick in ihrem Gesicht gleitet über meinen Körper. Ich schüttle mit dem Kopf und ziehe sie aufs Sofa. „Ich habe schon gegessen. Wir trinken doch bestimmt gleich Kaffee, dann esse ich da eine Kleinigkeit", ich lehne mich in dem Sofa zurück und widerwillig macht sie es mir nach.

GeziertWhere stories live. Discover now