Geziert

Neunte Verzierung

Die WhatsApp-Gruppe

"But it's true, you can fall in love with people's souls, with people's gestures, hearts and morals, with people's smiles and people's minds — without exchanging a single kiss and without saying a single word."

R. M. Drake

„Seid ihr gut angekommen?", fragt Mehdi und starrt mich übers Handy an. „Ja, die Fahrt ist deutlich angenehmer, wenn man zu zweit ist", ich lehne mich in dem Küchenstuhl zurück und senke den Blick auf meine Kaffeetasse.
Ich bin seit etwa einer halben Stunde in Frankfurt, vor fünf Minuten hat mir Vahap geschrieben, dass auch er in seiner Wohnung angekommen ist. Ich kann nicht verhindern, dass meine Gedanken immer wieder um ihn kreisen — er hat mich während der Fahrt mit seiner lockeren Art einfach nur fasziniert. Mit jeder Minute, die ich mit ihm verbringe, lerne ich neue Facetten von ihm kennen, die mich positiv überraschen.
„Und das hat nichts mit Vahap persönlich zu tun?",  fragt mein bester Freund nach einigen stillen Augenblicken. In seiner Stimme liegt eine gewisse Eifersucht.
Ich weiß die Antwort auf seine Frage — ich weiß, dass es ganz genau an Vahap gelegen hat, dass mich der Stau nicht provoziert hat, dass mich die zweistündige Fahrt heute nicht erschöpft hat —, aber ich bin nicht bereit mir das einzugestehen. Zumindest noch nicht.
„Vielleicht. Er ist ein unterhaltsamer Mitfahrer", ich zucke mit den Achseln und lächle zögernd. Mehdis Blicke durchbohren mich, denn er kennt die Wahrheit. „Mina", seufzt er irgendwann auf und ich blicke schuldbewusst auf meinen Handydisplay. „Lass uns Angesicht zu Angesicht darüber sprechen. Ich weiß worauf du hinaus willst und ich will auch mit dir darüber sprechen, aber nicht so", ich zeige erst auf mein Handy und somit auf ihn und anschließend auf mich. Er nickt lediglich und noch bevor ich mich versehe, wechselt er das Thema.

Es vergehen einige Tage — inzwischen ist Kenan auch wieder mit Vahaps Auto zurück und ich habe meinen Wagen wieder. Mein Alltag ist monoton: ich gehe zur Uni, gehe im Anschluss für einige Stunden in die Bibliothek und den restlichen Tag vegetiere ich in meiner Wohnung vor mich hin. Unsere Gespräche mit Vahap und Gerrit werden immer tiefgründiger, sodass ich nicht weiß, was ich tun würde, wenn sie sich von mir distanzieren würden. Ich bin nicht stark genug, um weitere Verluste wegzustecken.

Zögernd gehe ich auf die WhatsApp-Gruppe »The Beauty and the Beasts«, in der diejenigen Jungs aus unserer Familie und ihre Freunde sind, die ungefähr in meinem Alter sind. Bräuchte ich nicht dringend ihren männlichen und rationalen Rat und ihre Hilfe, würde ich bis zum Wochenende warten, um das Gespräch zu führen. Es sind schließlich nur noch zwei Tage, doch halte ich meine Gedanken nicht mehr aus.

„Leute, ich brauche eure Hilfe. Ich habe euch ja von meinem Kommilitonen erzählt", spreche ich in mein Handy und halte kurz inne. „Vahap. Ich habe euch nun öfter von Vahap erzählt, was alles zwischen uns vorgefallen ist, was ich gefühlt habe. Ich brauche dringend eure Meinungen zu ihm, weil ich gerade dabei bin mich Hals über Kopf in ihn zu verlieben." Ich schicke die zwanzigsekündige Sprachnachricht ab und warte gespannt darauf, dass die Jungs den Chat öffnen. Ich habe den Gedanken im letzten Nebensatz zum ersten Mal laut ausgesprochen und es fühlt sich komisch an.

„Ich wusste, dass wir irgendwann dieses Gespräch führen werden", lese ich die erste Nachricht, die von Xidir kommt und muss ein kurzes Grinsen unterdrücken. Xidir ist der beste Freund von Zeyd — also Mehdis Bruder. Ich schicke ihm als Antwort das Applaus-Emoji und sehe im gleichen Moment, dass Lavdim dabei ist eine Sprachnachricht aufzunehmen. „Xidir, man müsste blind sein, um das nicht vorherzusehen. Wie auch immer, da die Welt ja — wie bekannt — klitzeklein ist, habe ich einen Kommilitonen, der Vahap kennt. Er kommt auch aus Heilbronn. Auf jeden Fall kennen sich die beiden vom Boxen. Er konnte mir versichern, dass Vahaps positiven Eigenschaften überwiegen. Er boxt wohl in der Regel in der Offensive — sein linker Haken soll seine Stärke sein. Also würde ich sagen, wir müssen mal gegen ihn boxen", unwillkürlich beginne ich zu lachen.
„WIE HAST DU JEMANDEN GEFUNDEN, DER ZUFÄLLIG VAHAP KENNT?", ist die erste Nachricht, die Mehdi auf die Sprachnachricht seines Cousins schreibt.