Siebte Verzierung

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VAHAP — Familienstruktur

"Family is supposed to be our safe haven. Very often, it's the place where we find the deepest heartache."

„Erzähl schon, wem schreibst du?", höre ich Ömer neben mir sagen, ehe er auf mein Handy blickt. „Mina. So so. Wer ist das denn?", seine Frage wirft mich in erster Linie so aus der Fassung, dass meine Finger über der Tastatur schweben.
Eine wunderschöne Frage. Wer ist das denn?
Es dauert einige Augenblicke bis ich mich wieder sammle, meine Worte zurechtlege und minimal mit dem Kopf schüttle — als könnte ich damit auch meine Gedanken loswerden. „Sie ist eine Kommilitonin", erkläre ich meinem jüngeren Bruder kurz und bündig und tippe meine Nachricht weiter. „Eine Kommilitonin, mit der du auch außerhalb der Uni Kontakt hast? Ich dachte, dass dir der Kontakt zu Gerrit mehr als genug ist", zieht er mich nun auf, betont das Wort Kommilitonin so, dass man eine tiefere Bedeutung dahinter vermutet. Ich muss unwillkürlich lachen und schüttle mit dem Kopf. „Es ist nicht, wie du denkst. Es ist nicht so einfach, wie dein vierzehnjähriger Kopf es sich ausmalt", erkläre ich ihm und betone unseren Altersunterschied von 11 Jahren. „Was hat das jetzt mit meinem Alter zu tun?", zischt er und verschränkt die Arme vor der Brust. „Mina und ich sind einfach nur Uni-Freunde und ich schreibe ihr, weil ich eine Stelle in ihren Mitschrieben nicht verstanden habe", erkläre ich ihm ein weiteres Mal. „Bis jetzt", gibt Ömer seinen Senf dazu und sorgt dafür, dass sich meine Stirn in Falten legt, „du hast das »bis jetzt« vergessen. Ich wette das ändert sich in den nächsten Monaten oder Jahren." Fassungslos starre ich meinen Bruder an — wie kommt der Idiot auf solche Vermutungen? Vor allem, wenn ich ihm noch nichts über sie erzählt habe.

„Worüber sprecht ihr denn so energisch?", ertönt die tiefe Stimme unseres älteren Bruders Volkan und zeitgleich schleicht sich meine Wut ihm gegenüber an. „Ach, belangloses", Ömer macht eine wegwerfende Geste und setzt sich ein perfekt einstudiertes Lächeln auf — im Gegensatz zu mir kann er seine Wut zügeln und sogar überspielen, muss mit ihr leben und auch mit Volkan. Da bleibt ihm vermutlich nichts anderes übrig.
„Jungs, das Essen ist fertig", ruft unsere Mutter, bevor Volkan weiter nachforschen kann, und sorgt dafür, dass wir hintereinander her in die Küche laufen. „Vahap, ich habe extra dein Lieblingsgericht gekocht", meine Mutter strahlt mich an, deutet auf die, mit Hackfleisch gefüllten, Bulgurbällchen. „Danke", murmele ich und mache im nächsten Augenblick Bekanntschaft mit Ömers Ellbogen in meiner Seite. „Reiß dich zusammen, bitte", flüstert er und wirft mir sogleich einen flehenden Blick zu. Unter anderen Umständen würde ich mir nichts von ihm sagen lassen, vor allem nicht in dem Thema — ich bin schon seit einer geraumen Zeit nicht gut auf meine Mutter und meinen älteren Bruder zu sprechen —, doch will ich Ömer diesen Gefallen nicht abschlagen. Nicht, wenn ich in zwei Tagen wieder nach Frankfurt fahre und so schnell nicht zurückkomme. „Ellerine sağlık (wörtlich: „Gesundheit für deine Hände"; wird gesagt, wenn jemand besonders schmackhaft gekocht hat)", versuche ich mich etwas herzlicher zu bedanken und zwinge mir ein Lächeln auf.

In der Stille essen wir, wie auch nicht anders zu erwarten wäre, bis sich Volkan räuspert und unsere gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht. „Ich habe am Montag ein Bewerbungsgespräch", teilt er allen mit. Er klingt euphorisch und nur mit aller Mühe kann ich mein abwertendes Lachen unterdrücken.
„Hoffentlich wird's was. Dann muss Abi sich nicht abarbeiten, um genug für zwei Haushalte zu verdienen", Ömer wischt sich mit der Serviette über den Mund.
Das Fass hat er dieses Mal aufgemacht.
„Hoffentlich", kommentiert meine Mutter und greift nach Volkans Hand. Ihr liebevoller Blick gilt einzig und alleine ihm, nur ihn schaut sie aufrichtig an. Wenn sie diesen Blick bei Ömer und mir einsetzt, merkt man, wie aufgesetzt er ist.
Vielleicht tut es gerade deswegen weh, dass sie mich vor neun Jahren für ihn aufopfern wollte. Damit er so wenig Schäden wie möglich tragen muss.

GeziertWhere stories live. Discover now