Zehnte Verzierung

211 19 11
                                    

Vergissmeinnicht

athazagoraphobia. the fear of forgetting, being forgotten or ignored, or being replaced

Ermüdet von meiner Heimfahrt stehe ich vor meinem Spiegel in meinem Elternhaus und betrachte mein Spiegelbild ausgiebig. Meine Augenringe sind wieder so dunkel und tief, dass man vermuten könnte, dass meine Vorfahren Pandas waren. Kurz schmunzle ich über den Gedanken, streife schließlich mein T-Shirt ab, um mir frische Klamotten anzuziehen und starre geradewegs auf mein Tattoo am Schlüsselbein.
Es war eine Kurzschlussreaktion, eine spontane Entscheidung und dennoch ist das rote M&M so wertvoll. Lächelnd fahre ich drüber, denke gleichzeitig an meinen besten Freund, ohne den ich vermutlich schon längst den Verstand verloren hätte.
Nachdem ich mich auch meinem schwarzen Unterhemd entledige — ich möchte mir gleich ein weißes T-Shirt anziehen, da ist die Farbe etwas unpassend —, sticht mir ein weiteres, zierliches Tattoo ins Auge. Es sind sechs Vergissmeinnicht-Blüten an einem Stängel, die sich über meine linke Rippe erstrecken. Ich habe keinem davon erzählt, habe sie mir kurz nach meinem Umzug nach Frankfurt stechen lassen und seitdem gut versteckt.
Sie sind die Ver­bild­li­chung meiner größten Angst: vergessen zu werden. Mein Umzug hat diese Angst in mir vorangetrieben, das habe ich in den ersten Tagen in meiner neuen Wohnung bemerkt und doch hatte ich den Tapetenwechsel mehr als nur nötig. Vielleicht habe ich auch genau wegen jener Angst niemandem von dem Tattoo erzählt, denn es macht mich verletzlich. Sobald ich meine Gedanken ausspreche, treffe ich auf Unverständnis.

Denn wer wird schon in einer Familie wie unserer vergessen? Es findet sich doch immer jemand, der an einen denkt.

Vielleicht. Aber hätte ich dieses Gefühl nicht schonmal verspürt, hätte ich diese Ängste niemals entwickelt. Ich wurde mit einer wundervollen Familie gesegnet, dem bin ich mir mehr als bewusst. Ich hatte jedoch nie Glück mit meinem gewählten Freundeskreis — entweder waren es Menschen, die nicht mich sondern meinen Bruder oder Mehdi in ihrem Umfeld haben wollten oder aber sie waren mit mir befreundet, um von mir zu profitieren. In der Schule war ich in nahezu jedem Fach sehr gut, hatte ein gutes Verhältnis zu den Lehrern und das nutzten meine Mitschüler oftmals aus. Da niemals jemand wirklich Wert auf mich legte, wurde ich vergessen. Ich wurde nicht zu Treffen eingeladen, wurde bei Planungen und was alles zu Freundschaften dazugehörte außen vor gelassen.

Es ist falsch, diese Erfahrungen mit meiner Familie in Verbindung zu bringen, doch gehe ich meistens in der Masse unter, sobald wir alle versammelt sind. Vielleicht ist das in der Großfamilie normal, die wir bilden. Dabei handelt es sich zum Großteil jedoch nicht um unsere blutsverwandte Familie, sondern um jene Menschen, die sich mit ihrer Treue und Loyalität den Familientitel eingeholt haben. Die vier besten Freunde meines Vaters — Okan, Gençer, Selim und Mevlüt — sind mir näher als meine leiblichen Onkel, die beste Freundin meiner Mutter — Verâ — näher als meine leiblichen Tanten und ihre Kinder sind wie Geschwister für mich. Wenn wir aber versammelt sind — wie wir es in der Regel einmal im Monat machen —, fühle ich mich meistens überflüssig in der großen Runde. Dabei gibt mir nie jemand dieses Gefühl. Allein ein kurzer — unangekündigter — Toilettengang fällt auf, sodass ich eigentlich keineswegs ans Vergessenwerden denken dürfte.
Eigentlich.

Unwillkürlich fahre ich über die zärtlichen Blüten, versuche die ängstlichen Gedanken zu verdrängen.
Plötzlich springt meine Zimmertür auf und wie versteinert bleibe ich weiterhin vor meinem Spiegel stehen. Als ich Mehdi erblicke, wie er mit einem breiten Grinsen mein Zimmer betritt und schlagartig die Augen verdeckt, als er meinen mager bekleideten Oberkörper entdeckt, greife ich nach dem T-Shirt, das ich vor einigen Minuten ausgezogen hatte. „Seit wann klopft man nicht mehr an Zimmertüren, bevor man sie öffnet?", zische ich, greife nach einem Kissen und werfe es auf Mehdi. Da dieser noch immer die Augen geschlossen hat, sieht er es nicht kommen und mein schönes Kissen landet in seinem Gesicht. „Sorry, normalerweise liegst du nur in deinem Bett rum, wenn ich reinkomme", murmelt er und schaut mich entschuldigend an. „Ist schon in Ordnung, war schließlich leider nicht das erste Mal , dass du mich so gesehen hast", ich fahre mir durch die Haare und laufe im Zimmer auf und ab.

GeziertWhere stories live. Discover now