Apollo der Böse

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Ihre Mutter holte tief und zitternd Luft. "Die Sache ist die, Natalie", begann sie. "Du bist hier, weil Apollo von Zeus zu der Strafe verbannt wurde, die für Götter und Göttinnen die schlimmste ist: Er hat ihn zu einem Sterblichen gemacht."

Natalie starrte sie an. Sie konnte sich Apollo beim besten Willen nicht als Sterblichen vorstellen. Doch dann fiel ihr die Vision ein, die sie im Wald immer wieder gehabt hatte: Der blonde Teenager, der durch die Luft fiel und nicht auf den Boden auftraf.

"Doch es gibt ein Problem", sagte ihre Mutter und verzog das Gesicht. "Zeus hat etwas übersehen, als er meinen Vater verbannt hat. Man muss sich unglaublich konzentrieren, wenn man einen Gott auf die Erde zwingen will. Alle Schritte müssen durchdacht sein. Doch Zeus war unkonzentriert, als er das getan hat. In seiner Wut hat er einen Schritt vergessen und Apollo nicht hundertprozentig von seinem göttlichen Wesen getrennt, während dieser schon in der Transformation zum Sterblichen war."

"Woher weißt du das alles?", fragte Natalie fassungslos.

"Ich bin schon lange genug hier, dass ich das Wichtigste erfahren habe", antwortete ihre Mutter und erklärte das nicht weiter. Beinahe hätte Natalie gelächelt. So war ihre Mutter schon immer gewesen, viele Worte lagen ihr nicht. Doch sie sprach weiter: "Apollo ist auf halbem Weg sozusagen stecken geblieben. Er hängt jetzt zwischen Himmel und Erde, zwischen Göttlichkeit und Sterblichkeit, fest. Er kann weder zurück noch weiter."

"Und was muss getan werden, damit er weiterkommt?" Natalie musste tief Luft holen. Sie atmete schwerer als vorher, die Luft wurde dicker, irgendwetwas kam näher, etwas, das ihr die Luft nahm.

"Du musst entweder seine göttliche oder seine sterbliche Seite zerstören, damit er die eine entgültig verlassen kann", sagte ihre Mutter und verzog ihren Mund zu einem schmerzlichen Lächeln. "Du musst seine göttliche Seite zerstören, damit Apollo zu einem Sterblichen wird. Zeus würde dich hart bestrafen, wenn du das nicht tun würdest, denn dann widersetzt du dich seinem Willen."

Natalie verdrehte die Augen. Eigentlich hätte Zeus die Strafe, zum Sterblichen zu werden, verdient, plus eine Magenunverträglichkeit von der ganzen McDonald's -Speisekarte.

"Aber wird nicht Apollo mich bestrafen wollen, wenn er wieder ein Gott ist?", fiel ihr ein. "Er ist bestimmt nicht besonders begeistert, wenn ich dafür sorge, dass er ein Sterblicher wird."

Ihre Mutter nickte. "Das stimmt. Aber ich hätte lieber seinen Zorn als den von Zeus. Wenn Apollo dir etwas tun will, dann kann Zeus ihn aufhalten. Zeus hingegen hat die Macht über alles und jeden und wird sich nichts von irgendwem erklären lassen."

Ach, verdammt, wieso musste sie diesen ganzen Mist mitmachen? Sie konnte nichts für diesen ganzen Götterkram und doch würde sie, weil sie zufällig in einer Weissagung stand, von einem Gott verurteilt und womöglich bestraft werden. Natalie verstand mit einem Mal von ganz alleine, ohne äußerliche Einflüsse, wieso ihre Mutter sich damals den Göttern und Göttinnen abgewandt hatte.

"Außerdem", fuhr diese fort, "können wir Apollos sterbliche Seite nicht zerstören. Das wäre ziemlich suboptimal."

"Und was ist die?"

"Du müsstest die Halbgötter und Halbgöttinnen umbringen, die durch die Leier hierhergekommen sind."

Grauen durchfuhr Natalie wie ein eiserner Wind. Dann stutzte sie. "Aber die sind doch gar nicht sterblich", sagte sie. "Jedenfalls nur zur Hälfte. Wenn die sterben würden, hätte ich doch nur ein Viertel Sterblichkeit zerstört, nicht seine Hälfte."

Natalies Mutter zuckte mit den Achseln. "Erwarte nicht, dass irgendetwas, was mit meinem Vater zu tun hat, Sinn ergibt."

"ABER, ABER, WAS HÖRE ICH DENN DA?"

Die Galerie dröhnte und vor dem Geländer tauchte ein junger Mann, vielleicht siebzehn Jahre alt, auf. Er hatte dicke blonde Locken, einen muskulösen Oberkörper (Natalies erste Assoziation war Tarzan) und trug einen Lendenschurz und Sandalen. Sein Gesicht war nicht das, was Apollos wahre Gestalt hatte. Dieses hatte Züge wie aus Stein gemeißelt und hatten eine ungesund aussehende, dunkelgelbe Färbung. Die Nase bebte vor grausamen Vergnügen und die Lippen umspielte ein wahnsinniges Lächeln. "MEINE LIEBE TOCHTER IST MANCHMAL EIN WENIG VOREINGENOMMEN", erklärte er Natalie und setzte sich schwungvoll aufs Geländer.

"Ich bin nicht deine-", begann Natalies Mutter, doch Fake-Apollo sagte lässig: "SCHWEIG!" und ihre Stimme versagte.

Lächelnd wandte sich Fake-Apollo Natalie zu. "UND DU BIST MEINE ENKELTOCHTER? WIE SCHÖN, DICH ZU SEHEN! HAST DU SCHON MEIN NEUES ALBUM GEHÖRT?"

"Du brauchst nicht zu schreien", sagte Natalie, nahm die Schultern zurück und richtete ihren Bogen auf Fake-Apollo.

Dieser hob eine Augenbraue. "Wieso denn so unhöflich?", sagte er in normaler Lautstärke und ließ die Beine unwillig und gleichzeitig lässig baumeln. "Ich bin dein Großvater, Süße. Und das Album ist wirklich-"

"Halt die Klappe!", fauchte Natalie. Sie hatte jetzt verstanden, was hier vor sich ging, nicht ohne die Hilfe der stinkenden Dudes vom Schlachtfeld. "Du bist Apollos göttliche Seite", sagte sie. "Seine böse, göttliche Seite", fügte sie hinzu, denn anders als ihre Mutter glaubte sie zumindest ein wenig an die gute Seite der Götter. "Du hast seine schlechten Eigenschaften. Die Sonne verbrennt und ist tödlich heiß. Du bist ein schlechter Vater, dafür stehen die Schlangen, das Zeichen von deinem Sohn Asklepios, den du nicht vor Zeus beschützen konntest. Dann die Art Musik, mit denen du Leute in den Wahnsinn treiben kannst. Und deine Morde an Menschen, die es nicht verdient hatten zu sterben."

"Und jetzt bist du hier." Fake-Apollo breitete seine Arme aus, als würde er sich freuen, dass sie es noch einmal aufgezählt hätte. "Ach, wie ich mich freue, dich hier zu sehen. Denn ich habe mir noch eine böse", bei diesem Wort grinste er  noch breiter, "Eigenschaft aufgehoben." Mit einer präsentierenden Handbewegung zeigte er auf Natalies Mutter, die genervt die Augen verdrehte. "Sie ist deine letzte Hürde, Süße", erklärte Fake-Apollo. "Du musst sie töten oder du wirst hier sterben."

"Ich könnte aber auch dich töten", schlug Natalie vor und spannte den Bogen.

Fake-Apollos Lächeln verblasste und aus dem Nichts schoss ein Bogen genau auf Natalies Nase zu. Gerade noch rechtzeitig wich sie aus.

"Ich halte das für eine schlechte Idee", sagte Fake-Apollo gelassen. "Und jetzt entscheide dich endlich oder ich komme zu spät zum Mord-Bogenschießen."

Verzweifelt sah Natalie ihre Mutter an. "Was passiert, wenn ich dich töte?", fragte sie.

"Dann komme ich auf die Felder der Bestrafung", antwortete diese. "Die böse Seite von meinem Vater kehrt in den Geist von dem sterblichen Apollo ein und lässt ihn in der Welt der Sterblichen schlimme Dinge tun. Er wird nicht fähig sein, zu lieben."

In Natalies Kopf drehten sich die Gedanken. Woher wusste ihre Mutter das? Wieso waren Apollos Gemüter in zwei Hälften eingeteilt, gut und böse? Es gab nicht nur gut und böse, sondern auch noch was dazwischen oder zählte das bei Göttern und Göttinnen nicht? Und was passierte mit ihrer Mutter, wenn sie Apollo tötete? Trotz der Tatsache, dass ihr Geist aus der Unterwelt zurückgekehrt war, war sie ja tot. Daran war nichts zu rütteln.

"Ganz genau, Jo", riss die Stimme von Fake-Apollo sie aus ihren Gedanken. "Ich denke, du brauchst einen kleinen Denkanstoß, nicht wahr, Natalie? Wie wär's damit?" Er schnippte mit den Fingern und aus der Wand hinter ihm drang ein lautes Geräusch. Ein fürchterliches Knirschen, wie wenn Stein zerbricht oder Justin Bieber anfängt zu singen (ich weiß, der Witz ist alt). Ein Käfig brach aus der Wand hervor, deren Bruchstücke hinab in den Raum fielen. Der Käfig war aus goldenen Stäben gebaut und wurde durch ein tiefblaues Umhängeschloss zusammengehalten.

Entsetzen packte Natalie. Durch den Staub erkannte sie die Szenerie nur schemenweise: In dem Käfig kauerten sechs Gestalten, drei Jungs und drei Mädchen. Alle hatten Verletzungen an den Armen und Beinen, die teilweise noch bluteten.

"So", sagte Fake-Apollo und rieb sich die Hände, als hätte er einen Cheeseburger vor sich stehen. "Jetzt kommt der lustigste Teil, Süße. Entweder, du tötest deine Mom und ich lasse die Halbgötter unversehrt. Oder du weigerst dich. Dann muss ich leider von meinem Bogen Gebrauch machen und deine Freunde und du werdet sterben."

Natalie BrightWhere stories live. Discover now