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5. Freak

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Amys Mutter hatte mich schließlich nach Hause gefahren, obwohl ich am liebsten überhaupt nicht mehr an diesen Ort zurückgekehrt wäre. Sie parkte den Wagen am Anfang unserer Einfahrt und noch bevor ich das Fahrzeug verlassen konnte, sah ich bereits, wie meine Mom die Haustür aufriss und nach draußen trat.

Eilig bedankte ich mich für die Heimfahrt, bevor ich angespannt die Autotür öffnete und den Wagen verließ. Während ich auf meine Mutter zulief, konnte ich hören, wie Amys Mom den Rückwärtsgang einlegte und schließlich davonfuhr. Am liebsten wäre ich ebenfalls auf der Stelle umgekehrt, aber ich wusste, dass die kommende Konfrontation unvermeidlich war.

„Kannst du mir bitte sagen, was in dich gefahren ist? Hast du eine Vorstellung davon, wie dein Verhalten auf Robert und Gabe gewirkt hat?", fuhr sie mich unvermittelt an, als ich zu ihr auf die Veranda getreten war. Ihre Augen funkelten vor Wut, was mich ehrlich gesagt ein wenig einschüchterte.

„Lass mich einfach in Ruhe! Das ist alles deine Schuld", gab ich trotzig zurück und versuchte, mich an ihr vorbeizuschieben. Sie stellte sich mir jedoch in den Weg und versperrte somit demonstrativ die Fluchtmöglichkeit ins Innere unseres Hauses.

„Es ist meine Schuld?", fragte sie ungläubig und schnaubte dabei laut auf. „Habe ich etwa kein Recht darauf, glücklich zu sein? Ist es zu viel verlangt, dass sich meine Tochter für mich freut?"

„Du verstehst wirklich gar nichts! Es geht doch gar nicht um Robert, sondern darum, dass du mich die ganze Zeit belogen hast!"

„Ich habe dich nicht belogen und es tut mir leid, wenn du es so aufgefasst hast", entgegnete sie plötzlich in einem versöhnlichen Tonfall. Anscheinend kamen ihr nun doch noch Zweifel an ihrer Vorgehensweise, denn die Wut in ihrem Gesicht war plötzlich einer schuldbewussten Miene gewichen. „Ich dachte wirklich, es wäre leichter für dich, deinen Stiefbruder direkt persönlich kennenzulernen."

Bei dem Wort ‚Stiefbruder' zuckte ich unwillkürlich zusammen. Das Ganze erschien mir immer noch surreal und ich war mir nicht sicher, ob ich mich jemals mit dieser Tatsache anfreunden konnte.

„Es tut mir leid, wenn ich deine Gefühle verletzt habe. Das wollte ich nicht", flüsterte sie auf einmal mit tränenerstickter Stimme und ließ resigniert ihre Schultern hängen. Daraufhin schloss ich meine Arme um sie und ließ es gut sein. Ich konnte sowieso nichts mehr an der Situation ändern.

****

Als ich nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Morgen in den Schulbus stieg, ließ ich mich erschöpft auf den leeren Platz neben Amy sinken.

„Guten Morgen! Wie geht es dir?", wollte sie von mir wissen und knuffte mir aufmunternd in die Seite. „Wie lautet der Plan für heute?"

„Ich wäre froh, wenn ich einen Plan hätte", entgegnete ich hoffnungslos. In meinem Kopf hatte ich alle möglichen Szenarien durchgespielt, aber jede einzelne war absolut furchtbar gewesen.

„Wenn dir der Schnösel dumm kommt, bekommt er es mit mir zu tun", erklärte Amy daraufhin kampflustig. Ich quittierte diese Bemerkung jedoch nur mit einem Augenrollen, denn es war absolut keine Option, durch das Verhalten meiner Freundin noch mehr in den Fokus zu rücken.

Nachdem der Schulbus unsere High School erreicht hatte, bewegten wir uns wie üblich über den Parkplatz. Ich hielt so unauffällig wie möglich nach Gabriels schwarzem SUV Ausschau und atmete erleichtert auf, als ich ihn nicht entdecken konnte.

„Siehst du. Es ist alles in bester Ordnung", beruhigte mich Amy von der Seite und griff aufmunternd nach meiner Hand.

Als wir das Innere unserer Schule betreten hatten, entspannte ich mich allmählich. Niemand machte sich über mich lustig und alles schien völlig normal zu sein.

„Was hast du jetzt?", erkundigte sich Amy, während sie in ihrer Tasche wühlte und schließlich einen zerknüllten Zettel hervorholte.

„Chemie und du?", erwiderte ich und mir fiel auf, dass wir unsere Kurse noch gar nicht miteinander verglichen hatten. Normalerweise machten wir das gleich am ersten Tag nach den Ferien, aber da wir dieses Jahr einen ungünstigen Start hatten, waren wir noch nicht dazu gekommen.

„Ich habe jetzt Kunst, aber soweit ich weiß, müsste Lauren mit dir zusammen den Chemiekurs besuchen." Sie tippte sich überlegend ans Kinn. „Hier hast du meine Kursübersicht. Gleich sie mit deiner ab und schreib mir dann, wann wir zusammen Unterricht haben, okay?" Amy drückte mir den Zettel mit ihren Kursen in die Hand, umarmte mich und verabschiedete sich dann mit einem aufmunternden Lächeln.

Während ich in Richtung des Chemieraums lief, versicherte ich mich ein paar Mal, ob mich auch wirklich keiner merkwürdig von der Seite ansah aber glücklicherweise schenkte mir niemand Beachtung. Als ich mein Ziel schließlich erreicht hatte, betrat ich den Raum und hielt nach Lauren Ausschau.

Sie war noch nicht anwesend, also suchte ich mir einen leeren Platz in der vorletzten Reihe und behielt die Tür im Blick, während ich auf sie wartete. Der Chemiesaal füllte sich langsam mit Schülern und ich beschloss, die Wartezeit zu nutzen, um meine Kursliste mit der von Amy abzugleichen. Mit einem pinken Textmarker markierte ich unsere gemeinsamen Kurse und war gerade dabei, ein Foto von dem Abgleich an sie zu versenden, als sich plötzlich eine Person neben mich setzte.

Im ersten Moment nahm ich an, dass es sich um Lauren handelte aber als ich schließlich hinsah, blickte ich in das Gesicht von Gabriel. Mir musste augenblicklich jegliche Farbe aus meinem ohnehin schon blassen Gesicht gewichen sein, denn er musterte mich mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis.

„Läufst du jetzt wieder weg oder hast du dich heute besser im Griff?", fragte er, während ein süffisantes Grinsen seine Lippen umspielte. Er lehnte sich lässig auf seinem Stuhl zurück und wartete augenscheinlich auf eine Reaktion von mir.

„Mir ging es gestern nicht so gut", gab ich zurück aber meine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Mittlerweile hatten sich einige unserer Mitschüler zu uns gedreht und bedachten uns mit neugierigen Blicken. Sie begannen bereits zu tuscheln und hatten wahrscheinlich überhaupt keine Erklärung dafür, warum Gabriel Wright sich zu einem Freak wie mir setzte.

„Hör zu, Turner." Er beugte sich zu mir rüber, so dass seine Worte nur für mich hörbar waren. „Mach keine große Sache daraus, dann ist alles cool zwischen uns, okay?"

Ich starrte ihn ungläubig an. Hatte er mir gerade ein Friedensangebot unterbreitet?

(In)Visible - How To Survive Senior High SchoolWo Geschichten leben. Entdecke jetzt