2. Alarmstufe Rot

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Wenn ich dir das nächste Mal das Leben rette, benimmst du dich nicht wie ein Arsch, okay? ;) Danke für dein Verständnis! Wir reden später! Luv ya

Erleichtert verstaute ich das Telefon wieder in meiner Tasche und stieg in den Bus. Als ich nach zwanzig Minuten an der Ecke Ellwood Ave ausstieg, musste ich nur noch ein kurzes Stück die Straße hochlaufen, bis ich unser Haus erreicht hatte.

Ich blieb einen Moment in der Einfahrt stehen und betrachtete das Gebäude. Ursprünglich hatten Mom und ich hier gemeinsam mit meinem Dad gelebt, dies änderte sich jedoch mit der Trennung meiner Eltern vor vier Jahren.

Auf der Ellwood Ave gab es einige Reihenhäuser aber unser Anwesen war eines der wenigen freistehenden Häuser. Die Einfahrt war links und rechts von Rasen umgeben, wobei auf der rechten Seite ein Holztörchen in unseren Garten führte.

Um die Eingangstür zu erreichen, musste man drei Stufen bewältigen und fand sich dann auf unserer Veranda wieder. Mom hatte die Veranda ganz klassisch mit zwei Schaukelstühlen aus Holz dekoriert, welche unter dem Küchenfenster platziert waren, aber ehrlicherweise kaum zum Einsatz kamen.

„Sophia?" Was machst du denn da?", hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter fragen. Sie hatte ihren Kopf zur Haustür rausgestreckt und musterte mich prüfend.

„Hi Mom! Ich war kurz in Gedanken", erklärte ich wahrheitsgemäß, bevor ich den restlichen Weg zurücklegte und ihr zur Begrüßung eine Umarmung schenkte.

Meine Mutter war eigentlich eher der sportliche Typ: Jeans, ein schlichtes Shirt und dazu Sneakers. Ihre dunklen Haare hatte sie im Alltag meistens zu einem Dutt geknotet und ihr funktionaler Look hing wahrscheinlich auch ein wenig mit ihrem Beruf als Physiotherapeutin zusammen. Umso überraschter war ich, sie in einem dunklen Abendkleid vorzufinden.

„Ich nehme an, dein ungewöhnlicher Look ist auf die angekündigte Überraschung zurückzuführen?", erkundigte ich mich vorsichtig und musste mit einem Mal schwer schlucken. Erwartete sie etwa von mir, dass ich mich ebenso zurechtmachte?

„Genau. Du weißt ja, dass es mir ziemlich ernst mit Robert ist, und ich kann es kaum erwarten, ihn dir vorzustellen. Wir haben für heute Abend einen Tisch im ‚LeMaire' reserviert", erwiderte sie aufgeregt, während sie hinter mir die Haustür schloss und mich anschließend durch den Flur in den Wohnbereich schob.

Schon beim Wort ‚LeMaire' schrillten bei mir sämtliche Alarmglocken. Dieses Restaurant war für seine Exklusivität und Extravaganz bekannt und ich war so ziemlich genau das Gegenteil von diesen beiden Begriffen.

„Ich habe dir eine Kleinigkeit für heute Abend besorgt. Gefällt es dir?" Meine Mom war an die Couch herangetreten und deutete mit einem strahlenden Lächeln auf ein dunkelblaues, definitiv viel zu kurzes Cocktailkleid.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?", brachte ich entsetzt hervor und konnte nicht glauben, was hier gerade geschah. Diese Situation war eindeutig ‚Alarmstufe Rot' und auch wenn ich meiner Mom ihr neues Glück gönnte, konnte sie doch nicht von mir verlangen, mich derart zu verkleiden, oder?

Die Antwort darauf war leider ein: Doch, konnte sie!

Nachdem wir ungefähr zehn Minuten diskutierten, hatte ich schließlich resigniert zugestimmt. Ich würde dieses Kleid genau einmal tragen und es anschließend verbrennen! Oder spenden ... Irgendwas würde mir schon einfallen. Was mich wenigstens ein wenig positiv stimmte, war die Tatsache, dass ich in diesem überteuerten Laden wohl kaum Gefahr lief, jemandem aus der Schule zu begegnen.

Widerwillig nahm ich das Kleid mit in die erste Etage, wo sich mein Zimmer befand. Ich streifte es mir über die schlanken Schultern und betrachtete mich anschließend genervt in meinem Spiegelschrank. Wenigstens passte es einigermaßen und das dunkle Blau harmonierte mit meinen braun-rötlichen Haaren. Allerdings kam dadurch auch meine blasse Hautfarbe zur Geltung, was mich jedoch nicht störte.

„Wie weit bist du?", drängte meine Mom aus dem Erdgeschoss, was mich dazu veranlasste, genervt die Augen zu verdrehen.

Am unteren Treppenabsatz wartete sie bereits auf mich und ihr anerkennender Blick machte die ganze Angelegenheit nur noch schlimmer.

„Du siehst toll aus! Hast du vielleicht Lust, dass ich dir deine Haare frisiere?", erkundigte sie sich, während sie bereits mit ihren Fingern durch meine langen, glatten Haare strich.

„Nein, definitiv nicht", entgegnete ich gereizt. „Ist dein Freund der Präsident, oder warum veranstalten wir so eine Show?"

„Ist ja schon in Ordnung. Deine Haare sind gut so, wie sie sind", Mom lachte und hob ergeben ihre Hände, schob jedoch nach: „Allerdings könnte ich deine wunderschönen grünen Augen mit etwas Lidschatten noch strahlender aussehen lassen?"

„Wenn du nicht sofort aufhörst, kannst du gleich alleine fahren!" So langsam hatte ich wirklich genug von dieser Maskerade. Entweder dieser Robert akzeptierte mich so, wie ich war, oder er konnte mir gestohlen bleiben.

Es folgte trotzdem noch eine Kontroverse über meine Schuhwahl. Ich besaß einfach keine passenden Schuhe für dieses Kleid aber meine Mom hatte natürlich an alles gedacht. Freudestrahlend hielt sie mir ein Paar farblich abgestimmte Pumps hin. Glücklicherweise war der Absatz nicht allzu hoch, da ich sonst wahrscheinlich mit einem gebrochenen Knöchel in der Notaufnahme gelandet wäre.

Nicht einmal zehn Minuten später fand ich mich auch schon auf dem Beifahrersitz neben meiner Mom wieder. Sie hatte das Radio laut aufgedreht und summte irgendeine Ballade mit, während ich im Stillen betete, den Abend schnell hinter mich bringen zu können.

Als sie den Wagen schließlich vor dem ‚LeMaire' zu Stehen brachte, wischte ich mir meine schweißnassen Hände am Saum des Kleides ab.

Mir war bewusst, dass es nun kein Zurück mehr gab.

(In)Visible - How To Survive Senior High SchoolWhere stories live. Discover now