fleur de cerisier //

By farbspritzer

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"Ich denke immer an dich. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, ja sogar jede fucking Sekunde." Linnea möchte... More

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By farbspritzer

„Hi, wir sind deine neuen Nachbarn", sagte er mit einem breiten Lächeln, bei dem er mir seine geraden, schneeweißen Zähne zeigte.

„Ähm ja hi", erwiderte ich, während ich die Arme vor der Brust verschränkte und mich an den Türrahmen anlehnte.

„Also das ist Viktor", er zeigte auf den kleinen Jungen neben sich, „und ich bin Noah." Viktor winkte mir einmal, versteckte sich jedoch ein wenig hinter Noahs Bein und krallte sich mit seinen Fingern in dessen Jeans fest. Ich ging in die Knie und löste meine Arme aus der abweisenden, desinteressierten Haltung.

„Hallo Viktor, ich bin Linnea." Ich streckte ihm meine Hand hin, die er jedoch geflissentlich ignorierte und sich stattdessen sogar noch weiter hinter Noahs Beinen versteckte.

„Mach dir nichts draus. Zu Fremden ist er eigentlich immer so schüchtern."

Ich nickte und stand wieder auf. Jetzt wirkte der junge Mann anders. Nicht mehr so egoistisch und rücksichtslos, wie vor einigen Stunden. Im Gegenteil, er benahm sich freundlich, höflich und vor allem verantwortungsbewusst. Auch ihm hielt ich meine Hand hin und er umschloss diese nahezu sofort mit seinen langen, weichen Fingern und schüttelte die meinigen leicht.

So wie sich Viktor noch immer an Noah klammerte, mussten sie verwandt sein. Es wirkte, als wäre Noah seine Bezugsperson. Ein großer Bruder kam meist nicht an eine solche Wirkung heran, das hatte ich bei den unterschiedlichsten Patienten auf der Arbeit gelernt. Außerdem wirkten sie viel mehr, wie ein eingespieltes Team aus Vater und Sohn.

„Ich wollte mich nochmal wegen heute Vormittag entschuldigen. Das ist eigentlich gar nicht meine Art", riss er mich aus meinen Gedanken.

„Schon okay. Jeder kann ja mal einen schlechten Tag haben."

„Ich wollte dir als Entschädigung beim Auspacken helfen, also wenn du willst", bat er mir unsicher an.

„Das ist zwar echt nett, aber eigentlich wollte ich das alleine machen", begann ich sein Angebot abzulehnen. Was mir bei meiner Familie so leicht fiel, gestaltete sich bei ihm echt schwer.

„Ein bisschen Hilfe kann doch nicht schaden", versuchte er mich weiterhin zu überzeugen. Er schien sich echt schuldig zu fühlen und als er weiter argumentierte, konnte ich nicht mehr nein sagen. Er war mir sympathisch. „Komm schon. Was ist schon dabei, wenn wir dir helfen, dich hier einzugewöhnen?"

„Dass ich euch nicht kenne zählt nicht als Grund, oder?", fragte ich ein wenig humorvoll, da ich mich im Inneren bereits entschieden hatte.

„Non, das kann man nämlich ändern." Ich wunderte mich nicht wirklich über die Verwendung fremdsprachiger Wörter, da ich es von meiner besten Freundin gewohnt war, dass sie ab und zu in ihre Muttersprache rutschte, die sie jahrelang diese täglich nutzen musste.

„Okay, okay. Ihr könnt helfen." Ich deutete ihnen durch die Tür zu gehen und erstaunlicherweise löste sich Viktor von Noah und lief voran.

Als Noah ebenfalls an mir vorbei in die Wohnung ging, nahm ich seinen wohltuenden holzigen und moschusartigen Geruch wahr.

„Bitte erschreckt euch nicht, wenn ihr die ganzen Kisten seht", rief ich in den Flur.

Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, folgte ich Noah und betrachtete ihn. Er war ein paar Zentimeter größer als ich und sein Haar war so dunkelbraun, dass ich es schon als schwarz bezeichnen würde, obwohl das biologisch und vor allem physikalisch gesehen komplett unmöglich war. Der grobe, dunkelblaue Strickpulli schmiegte sich an seine Schultern und fiel danach locker über seinen Rücken. Der Eindruck einer versuchsweise schmalen Hüfte wurde von der eng geschnittenen Jeans bestätigt und ließ sogleich die Frage zurück, wie jemand so breite Schultern und dennoch eine solch schmale Hüften und Beine haben konnte. Als er sich umdrehte und mich fragte mich, wo er lang müsse, unterbrach er meine vermutlich nicht sehr unauffällige Beobachtungen.

„Ähm... Ehrlich gesagt war ich gerade mit einem Raum fertig und deshalb kannst du einfach eine Kiste nehmen und dann komme ich mit", stammelte ich.

Er schnappte sich eine Kiste und sah mich fragend an „Wo ist dein Schlafzimmer?"

Ich deute in den Raum rechts von mir. „Ich komme sofort nach. Ich suche nur eben nach einem Buch für Viktor."

„Das ist aufmerksam von dir. Allerdings hatte ich mir gedacht, dass wenn wir dir helfen dürfen, ich eben rüber laufe und seine Hausaufgaben holen. Wenn er die heute schafft dann haben wir das Wochenende Hausaufgabenfrei. Nicht wahr Vic?", fragte er den ihm, wie aus dem Gesicht geschnittenen Jungen.

Er stellte die Kiste wieder ab und wollte sich gerade zum Gehen wenden, da fragte ihn Viktor mit einem Strahlen im Gesicht: „Kann ich meine Sachen holen gehen?"

„Kannst du Vic. Du weißt, dass du den Schlüssel linksrum drehen und ganz fest an der Tür ziehen musst, ne?"

„Jaja", antworte ihm Viktor ganz zappelig.

Noah holte einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, suchte den passenden Schlüssel und drückte ihn Viktor mit den Worten „Zuschließen nicht vergessen" in die Hand. Sobald er den Schlüssel in der Hand hielt, lief er den Flur entlang und mit einer knallenden Wohnungstür verließ er die Wohnung. Erheitert folgte ich Noah, der inzwischen den Karton wieder hochgehoben hatte, in mein Schlafzimmer, wo er diesen dann zwischen meinem Schreibtisch unter den beiden Fenstern und dem Bett abstellte.

„Freut er sich immer so über Kleinigkeiten?", fragte ich Noah.

„Das tut er. Ich glaube in diesem Punkt habe ich ihn ziemlich gut erzogen", erwiderte er stolz und für mich stand mit diesem Satz definitiv und endgültig fest, dass er Viktors Vater war.

„Das hast du. Ich denke es ist ziemlich schwer heutzutage ein Kind so zu erziehen. Aber machst du dir keine Sorgen, wenn du ihn einfach so alleine gehen lässt? Ich meine, er könnte ja einfach aus dem Haus gehen und sonst was machen", gab ich zögerlich von mir. Ich wollt damit jedoch weder seine Erziehungsmethoden noch seine Verantwortung als Vater in Frage stellen.

„Ich nehme jetzt mal nicht persönlich, dass du denkst, dass Viktor mir egal ist oder dass ich ihn nicht richtig erziehe", sagte er mit einem schiefen Lächeln, bereit fortzufahren.

„So meinte ich das wirklich nicht", unterbrach ich ihn, um meinen Fehler auszubügeln.

„Das habe ich mir schon gedacht, aber um auf deine Frage zu antworten: Vic würde mein Vertrauen in ihn, glaube ich zumindest, niemals verletzten. Ich meine er baut ziemlich viel Scheiße, da gebe dir Recht, aber er erzählt mir immer davon. Außerdem weißt du ja bestimmt, dass man unten an der Tür einen Schlüssel braucht, um sie zu öffnen und auch wenn Viktor schlau ist, so weiß er dennoch nicht, welchen Schlüssel er braucht. Er kann sich ja noch nicht einmal das Aussehen des Wohnungsschlüssels merken", widersprach er lachend meiner Annahme. Bei dem Klang seines kehligen Lachens, musste ich auch anfangen zu lachen.

Unterbrochen wurde unser Lachen von der Türklingel und gleichzeitig setzen wir uns in Bewegung. „Du warst aber schnell", sagte ich immer noch lächelnd zu Viktor, der nun einen Schulrucksack trug, als ich ihm die Tür geöffnet hatte. „Hast du auch zugeschlossen?", vergewisserte sich Noah, nachdem Viktor genickt hatte und ihm den Schlüsselbund in die Hand gedrückt hatte.

„Oh. Noah, das habe ich vergessen. Es tut mir leid." Schuldbewusst guckte Viktor zu Boden und schabte nervös mit seinem rechten Fuß vor und zurück. Noah ging vor ihm in die Knie und drückte Viktors Kinn nach oben.

„Hey, hey, hey es ist doch alles gut. Ich habe mir schon gedacht, dass du das in der Eile vergessen hast, deshalb habe ich doch gefragt.", versuchte Noah seinen Sohn aufzumuntern.

Dieser blickte ihn mit glitzernden Augen an und fragte: „Es ist wirklich nicht schlimm?"

„Nein, Vic. Es ist alles gut. Ich laufe eben nach drüben und schließe ab. Derweil kann Linnea dir ja einen Tisch zeigen an dem du dann arbeiten kannst." Er blickte fragend zu mir und ich antwortet mit einem leichten Nicken.

Mit einem aufbauenden Lächeln hielt ich Viktor die Hand hin:
„Na dann suchen wir dir mal einen Platz." Zu meinem Erstaunen ergriff er diese sogar und lief mit mir mit. Ich drehte mich noch einmal zu dem immer noch auf dem Boden hockenden Noah und deutete ihm er solle verschwinden, bevor es Viktor in meiner Nähe nicht behagte.

„Magst du lieber im Wohnzimmer bei den ganzen Kisten oder in der Küche Hausaufgaben machen?", fragend blickte ich zu ihm hinab.

„Küche, Lin", antwortete er grinsend. „Lin?", hinterfragte ich seinen Ausdruck. „Mein Spitzname für dich.", sagte er mit einem so unwiderstehlichen Lächeln, dass ich nicht anders konnte als grinsend okay zu sagen. Es schien als würde er mir einigermaßen vertrauen, weil sein Vater mir traute.

„Darf ich dir dann auch einen Spitznamen geben?", bat ich Viktor.

„Ja", sagte er begeistert und zog dabei das a lang, „aber du musst dir einen kreativen Namen einfallen lassen. Genau, wie ich auch", er war stolz über seine, für ihn geniale Idee. Ich erwähnte lieber nicht, dass sein Beiname so von ziemlich jedem, den ich kannte, schon genutzt wurde. Es störte mich jedoch nicht im Geringsten, dass er mich so nennen wollte, denn das bewies mir nur, dass das Eis zwischen uns gebrochen war.

Im Essbereich der offenen Küche setzte er seinen Rucksack ab und zog einen Stuhl vom Tisch zurück, um sich darauf zu setzen und seine Aufgaben heraus zu suchen. Als es erneut klingelte wuschelte ich ihm kurz durch die Haare, worüber er sich einem „Ey", empörte und wendete mich zum Gehen. Amüsiert lief ich zur Tür und öffnete sie Noah, der mich aus seinen großen Augen abwartend betrachtete.

Diese unbeschreibliche Mischung aus braun und grün faszinierte mich und ließ mich sprachlos, sodass ich nur zur Seite trat um ihn durch zu lassen.

„Wo ist Viktor?", waren die ersten Worte, die die zunehmend bedrückende Stille durchbrachen. „In der Küche, gerade aus durch." „Hat er schon angefangen?", hinterfragte er die Tätigkeiten seines Sohnes und blieb, anders als ich gedacht hatte, im Flur stehen. „Nachdem ich ihm den Tisch gezeigt habe, hat er sofort seine Sachen rausgeholt und angefangen. Wie hast du es geschafft, dass er sofort anfängt? Die Kinder, die ich kenne und das sind wahrlich nicht viele, sträuben sich immer."

Während er meinen Worten gelauscht hatte, hatte sich ein breites Grinsen, das keinesfalls arrogant oder überheblich wirkte, auf seinem Gesicht gebildet.

„Naja, gemacht habe ich da eher weniger. Meist machen wir unsere Sachen gemeinsam und er hat halt gelernt, dass wenn er nicht ruhig seine Aufgaben macht ich auch nicht arbeiten kann. Daraus folgt dann für ihn, dass ich später mein Zeug organisieren und vorbereiten muss und dann keine Zeit ist, um mit ihm etwas zu unternehmen."

„Das ist eine sehr ausgefuchste Masche, die du da unbewusst eingefädelt hast. Ich denke, dass mir das um einiges weiterhelfen wird", bedankte ich mich für seine Ehrlichkeit.

„Wieso? Hast du Kinder?", erkundigte er sich nach meiner durchaus mehrdeutigen Antwort.

„Nein, habe ich nicht, aber meine Nichte, Freyja, versucht immer mit meinem Bruder zu verhandeln. Sie will einfach um die Hausaufgaben herumkommen und versteht noch nicht, dass es nur Übung für sie ist.", verdeutlichte ich meine Aussage.

„Vic war auch so, aber er hat es ziemlich schnell gecheckt. Sogar ohne, dass ich etwas gesagt habe", bewundernd pfiff ich leise durch meine Zähne, „Er scheint ein ziemlich pfiffiges Kind zu sein."

„Das ist er, auch, wenn er so einiges hat durchmachen müssen", sagte er bedrückt. Ohne, dass er eine Andeutung gemacht hatte wusste ich, dass er nicht darüber reden wollte und schon gar nicht mit einer praktisch Fremden.

„Ich bezweifle, dass du gekommen bist, um weiter zwischen Tür und Angel zu stehen und deine Zeit zu verschwenden", wechselte ich weniger geschickt das Thema.

„Stimmt, obwohl ich unsere Gespräche keinesfalls als Zeitverschwendung ansehe", ging er schmeichelnd auf meinen Themenwechsel ein und wendete sich dann nach rechts, um das Schlafzimmer erneut zu betreten.

Schnell lief ich ihm hinterher, um vor ihm die Kiste, die immer noch unberührt auf dem Boden verweilte, zu erreichen. Nachdem ich mich auf das Bett fallen gelassen hatte, zog ich die Kiste ebenso ans Bett und öffnete diese.

Ich erkannte sofort, um welche Kiste es sich handelte. Das war der Vorteil daran, dass ich großteils alleine meine Kisten gepackt hatte. Zuerst hob ich die Garnitur Bettäsche aus der Kiste und warf sie dann hinter mich auf das Bett, da ich dieses gleich beziehen wollte. Vorher musste ich jedoch erst noch den Karton mit dem Federkissen und der Decke finden.

„Soll ich mir eine eigene Kiste holen oder gibst du mir was ab?", hörte ich Noahs belustigte Stimme viel zu dicht hinter mir. Erschrocken versteiften sich meine Glieder und ich war nicht fähig ihm zu antworten. Als Noahs große, warme Hand mich an der Schulter berührte, wachte ich aus meiner Starre auf.

„Sorry, ich bin gelegentlich ein wenig schreckhaft", versuchte ich ihn zu beruhigen, obwohl ich nicht einmal wusste ob er sich überhaupt Sorgen gemacht hatte. Wahrscheinlich war das aber eher nicht der Fall.

„Dann ist ja alles gut, oder?", fragte er mich mit einem ungeheuer sanften und fürsorglichen Unterton. Er hatte sich anscheinend doch Sorgen gemacht.

„Ja", erwiderte ich entschlossen und machte Anstalten mich zu erheben, um noch eine Kiste zu holen. Doch Noah drückte mich vorsichtig, wie als wäre ich eine Porzellanfigur kurz vor dem zerspringen, wieder aufs Bett. „Du willst eine Kiste für mich holen, oder?", verblüfft darüber, dass er mich anscheinend nach den paar Worten, die wir bis jetzt gewechselt hatten, und der noch viel kürzeren Zeit, die wir miteinander verbracht hatten, schon so gut kannte, nickte ich nur.

„Ich gehe mir selber eine holen, räum du nur deine schon einmal ein bisschen aus", lehnte er mein unausgesprochenes Angebot ab und verschwand nach diesen Worten aus dem Raum, nur um wenige Augenblicke später mit einer Kiste wieder herein zu kommen. Er stellte sie mitten im Raum ab und nahm neben mir Platz.

„Viel bewegt hast du dich ja nicht. Du bist mir keine große Hilfe", gab er scherzhaft von sich. Seine Worte sorgten dafür, dass sich ein Lächeln auf meinem Gesicht bildete und ich ohne zu zögern antwortete: „Ich bin einfach etwas erstaunt, wie selbstverständlich du mir hilfst."

„Ach nichts dafür", er machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand und fuhr mit einem falschen arroganten Grinsen fort, „Außerdem muss ich ja dafür sorgen, dass du mich unwiderstehlich findest. Schließlich bin ich nicht so ein Kotzbrocken, wie der Typ, der heute Vormittag einfach in dich rein gerannt ist und sich nicht einmal entschuldigt hat." Sein Blick hatte sich während des Gesprochenen von gekünstelt arrogant zu schuldbewusst verändert.

Auf einmal erinnerte er mich sehr stark an seinen Sohn. Ohne es zu wollen fing in meinem Körper ein Funken Feuer. Der Wunsch weder Viktors noch Noahs Grund für diesen undefinierbaren Ausdruck in ihren Augen zu sein. Diese Verbindung von Trauer, Schuld und Missglück tat mir im Herzen weh, und das obwohl ich weder Viktor noch Noah wirklich kannte.

Vermutlich war ich ein zu emotionaler Mensch, um nicht zu handeln und erst recht um nichts dabei zu empfinden. Deshalb war jetzt auch ich es, die Noahs Nähe suchte, seine langen, schmalen Finger zwischen den meinigen hielt und langsam und nicht ohne Zögern über sie strich. „Ich habe doch gesagt, dass es okay ist. Ich verspreche dir, dass ich kein schlechtes Bild von dir habe, weil du es anscheinend sehr eilig hattest", probierte ich ihn auf zu muntern.

„Das war ich. Ich schöre dir, dass ich sonst kein solch rücksichtsloser, egoistischer Mensch bin.", flüsterte er in die Stille hinein.

„Hilft es dir, wenn du darüber redest?", versuchte ich weiterhin ihn von seinen traurigen Gedanken abzubringen.

„Vermutlich hilft es nur dabei, dich von meiner Unschuld zu überzeugen", beantwortete er meine Frage mit einem schiefen Lächeln. Erfreut über diese Wendung in die richtige Richtung, meinte ich: „Dann brauchst du mir nicht davon zu erzählen, weil ich dich in den paar Minuten, die wir miteinander verbracht haben, schon als das komplette Gegenteil einschätze."

Erleichtert hörte ich ihn ausatmen. Dann stand er auf, öffnete seine Kiste und fragte mich überaus motiviert, wie ich meinen Kleiderschrank ordnen würde. Da ich wusste, dass in meiner Kiste auch Kleidung drin war, zog ich diese vor den Kleiderschrank und öffnete ihn.

„Also: Hosen kommen gestapelt auf ein Brett, T-Shirts gerollt, also so wie sie im Karton sein müssten, in die Schubladen, Pullis auch auf ein Brett und Jacken auf die Bügel", wies ich ihm an, was er zu tun hatte.

„Alles klar", tat er sein Verständnis kund und zog seine ebenso Kiste neben die meinige.

Stumm fingen wir an nebeneinander die Kleidungsstücke in den relativ geräumigen Schrank zu räumen, bis Noah diese Stille unterbrach.

„Und wohin gehört deine Unterwäsche?" Merda.

Augenblicklich wurde ich rot und mir blieb kurz die Luft weg. In der nächsten Sekunde riss ihm den in neutralem weiß erstrahlenden BH aus den Händen. Doch schon in der nächsten Sekunde hielt er den nächsten in die Luft. Während ich in die Höhe sprang, um ihm auch das anthrazitfarbende Spitzenmodell abzunehmen, lachte er. Warum musste er ausgerechnet diese Kiste erwischt haben? Und warum musste ich unbedingt beim Einpacken meiner Unterwäsche einen schwachen Moment gehabt haben, sodass ich meine Mutter mir helfen lies und jetzt noch nicht einmal wusste, was alles in der Kiste gelandet war?

„Noah, das ist nicht lustig."

„Doch eigentlich ist es das schon", widersprach er mir spitzbübisch lächelnd und rannte kurz darauf, wie ein kleines Kind mit Zuckerschock, durch den Raum und hielt den BH dabei fest an den Körper gedrückt.

„Managgia!", regte ich mich auf Italienisch auf und lief ihm hinterher.

Als ich hinter ihm über das Bett jagte, verfing ich mich in dem Bettbezug und krachte auf den Teppichboden. Sofort warf Noah den BH auf den Boden und kam zu mir. Während er mir die Hand hinhielt, erkundigte er sich nach meinem Wohlbefinden: „Oh mein Gott, das tut mir voll leid. Ich wollte das echt nicht. Alles okay?"

Ich ergriff seine Hand und er zog mich mit Leichtigkeit wieder auf die Füße. Als ich mich auf das Bett setzte, tat Noah es mir gleich. Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete er mich skeptisch, während ich vorsichtig meinen Knöchel abtastete.

„Was genau tust du da?", hinterfragte er mein Tun.

„Ich taste meinen Knöchel ab, um zu überprüfen, ob ich mich verletzt habe, Idiota", antwortete ich etwas gereizt, da es ja wohl offensichtlich war, was ich tat.

Mit einem wohlklingenden französischen Akzent ging er auf meine vorherige Härte ein: „Excuse, Linnea."

Den auf meinem Gesicht auftauchenden fragenden Ausdruck quittierte er mit einem leichten Lächeln, beantwortete ihn aber auch sofort: „Entschuldigung. Ich rutsche leider oder erfreulicherweise, je nachdem wie man es sieht, immer mal wieder ins Französische. Ist ein Berufsrisiko."

Ich nickte und stand wieder auf, nachdem ich befunden hatte, dass ich mir bei dem Sturz nichts verletzt hatte. Ich begab mich erneut zu den Kisten und erkundigte mich zwischenzeitlich, welchen Beruf er denn ausüben würde.

„Ich bin Lehrer", erwiderte er prompt. Erstaunt drehte ich mich um.

„Ehrlich?" Ich hatte ihn eher als Bänker oder so etwas in der Art eingeschätzt.

„Wirklich. Französisch und Sport in den Sekundarstufen eins und zwei. Aber vorwiegend eins, da ich unter anderem wegen Viktor nicht so viele Stunden in der Woche arbeiten kann."

„Ich hatte nicht erwartet, dass du mit Kindern zusammenarbeitest. Ich meine dich erwartet ja jeden Tag, wenn du nach Hause kommst, eines. Und das will wahrscheinlich kein Französisch lernen oder durch eine Turnhalle gejagt werden."

Schmunzelnd gab er mir die Antwort: „Manchmal ist es schon ziemlich anstrengend nach der Arbeit noch einen aufgedrehten Jungen zu beaufsichtigen und zu bespaßen, aber meist geht das echt in Ordnung. Meine Schüler sind ja nicht mehr so jung, wie Viktor und außerdem habe ich natürlich eine viel tiefere Bindung zu Vic als zu meinen Schülern."

Verständnisvoll nickte ich und wand mich Noahs Karton zu, damit er mich nicht erneut mit meiner Unterwäsche ärgern konnte.

„Fichu! Wieso nimmst du denn jetzt meine Kiste?", vernahm ich seine beleidigte Stimme hinter mir. „Warum wohl?", hinterfragte ich seine äußert unnötige Frage. Ich erwartete keine Antwort.

Doch bevor wir ausdiskutieren konnten, wer die heiß begehrte Kiste mit meiner Unterwäsche auspacken durfte, tönte die kindliche Stimme von Viktor durch die Wohnung.

Merda.

✖✖✖
Was haltet ihr von Linnea?
Noah?
Viktor?
Was denkt ihr geschieht als nächstes?
✖✖✖

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