Spares - Sag mir wer ich bin

By AlessandraWinter

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„Sie sind nicht unsterblich Alice. Mach sie nicht zu den Göttern, für die sie sich bereits ohnehin halten. Si... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20

Kapitel 16

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By AlessandraWinter

Als wir den Raum verlassen haben umschließen warme sanfte Finger meine Hand. Ich weiß, dass es Ivens ist, der mich durch die Gänge leitet und ich gestatte mir die Kontrolle abzugeben.

Als ich schließlich auf das weiche Sofa krabbele und meinen Kopf an seiner Schulter vergrabe wird mir gewahr, dass wir wieder in dem Raum mit dem weinroten Sofa sind. Es ist eine Zufluchtsstätte für uns beide, für das Wir, dass sich plötzlich so ergeben hat.

Er fährt vorsichtig über mein Haar und streichelt mit der anderen Hand meinen Arm. Unsere Atemzüge sind gleichmäßig, im Takt.

Ich bemerke die Tränen erst, als er mir eine sanft von der Wange wischt. Überrascht hebe ich den Kopf und treffe seinen traurigen Blick. Als ich ihn forschend mustere, verdunkeln sich seine Augen mit einem Mal, ich merke wie seine Gedanken fort wandern. Er blinzelt kurz und befreit sich ungelenk aus meiner Umklammerung.

Überrascht von der plötzlichen Distanz rücke ich ein wenig von ihm ab und versuche unverfänglich ein Gespräch zu beginnen: „Ich muss das also auswendig lernen." „Ja, aber wenn du etwas vergisst ist das nicht so schlimm, ich denke ich habe die Lösung für das Problem mit den Erinnerungen", er lächelt ein wenig, ich weiß, dass ein Teil davon erzwungen ist. Ich wüsste nur gerne warum. Statt meiner eigentlichen Frage, stelle ich die naheliegende: „Und die wäre?" „Gedächtnisverlust. Ist nicht unbedingt eine typische Folge von Operationen aber soweit ich weiß könnte das durch die Narkotisierung schon einmal passieren. Du tust einfach so als wüsstest du nicht wer du bist. Wenn dir etwas aus den Berichten bekannt vorkommt kannst du ja so tun, als käme ein Teil der Erinnerung wieder. Niemand wird misstrauisch werden und große Fragen stellen. Außerdem wird keiner erwarten, dass du dich ohne Hilfe zu Recht findest", er klingt sehr zufrieden mit sich. Was immer sich in seine Gedanken geschlichen hat, er hat es vertrieben. Fast wünschte ich mir, er könnte so aufrichtig sein und mir von den Dämonen erzählen mit denen er kämpft. Er kennt meine schließlich auch.

Obwohl, wie mir gerade auffällt, ich nie mit ihm über Ruven gesprochen habe. Was etwas merkwürdig ist. Er ist ein guter Zuhörer. Trotzdem, es ist – auch wenn ich nicht erklären könnte weshalb – abwegig mit ihm darüber zu sprechen.

„Ich glaube das könnte klappen. Ich hoffe nur ich kriege das hin", meine ich verzagt und blicke auf meine Hände. Er umfasst sie leicht: „Natürlich schaffst du das. Du bist viel stärker als du denkst. Vertrau mir." Ein Lächeln wandert auf meine Lippen und ich traue mich wieder näher an ihn heran, bis er mich in seine tröstliche Umarmung schließt.

Den Rest des Tages verbringe ich damit mehr über meine Schwester zu erfahren. Bei jeder neuen Information frage ich mich, ob ich das Richtige tue. Ich könnte sie retten. Es läge in meiner Hand einen Menschen zu retten, den ich nicht kenne, mit dem ich aber unweigerlich durchs Blut verbunden bin. Aber ich weiß es würde mein Leben fordern – ich fühle mich schuldig dafür, aber mich für eine Person, die ich nicht kenne selbst zu opfern, liegt außerhalb meiner Vorstellung. Ich kann es nicht tun.

Gleichzeitig weiß ich, dass mit meinem Eigennutz ihre letzte Chance auf Leben verloren geht. Irgendwann vertraue ich mich Iven an.

„Das meinst du nicht ernst?", ein ungläubiges Entsetzen zeichnet sich auf seiner Miene ab. Ich bin verunsichert: „Warum denn nicht?". Er sagt nichts und zieht mich einfach ein weiteres Mal in seine Arme. An seine Brust gedrückt flüstere ich nach einer Weile: „Gibt es denn gar keine andere Möglichkeit ihr zu helfen?" Ich spüre nur sein leichtes Kopfschütteln an meinen Haaransatz: „Es ist ungerecht, aber nein. Nichts was sich mit unseren Plänen vereinbaren lässt."

Ich versuche mir zu merken, dass sie gerne einen Sport macht der Cheerleadern heißt und von dem ich noch nie gelesen habe. Dass sie gerne kocht und in der Schule ganz gut ist. Dass ihr erstes Haustier (Ich musste erst Iven fragen was das ist) eine Katze war die Miezi hieß. Miezi ist auch tot.

Ich fühle mich leer, Leben und Tod scheinen selbst in den wohlbehüteten Gated Communities Schatten zu werfen. Und ich habe Angst, ich kenne diese Welt nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich diesen Ort überhaupt kennen lernen will.

Aber dann denke ich an das grüne Gras unter meinen Füßen und mir wird bewusst, dass ich etwas habe, für das sich das Kämpfen lohnt: Meine Freiheit und die Möglichkeit mein Leben selbst zu gestalten.

Es ist später Abend, als einer der Berater von Forton auftaucht und uns wissen lässt, dass die Verhandlungen mit Mittelsmännern erfolgreich war und sie alles in die Wege geleitet haben. Dann fügt er nüchtern hinzu, dass der Zeitpunkt für den Wechsel auf kurz nach Mitternacht datiert wurde und ich demnächst zum Aufbruch bereit sein sollte. Schließlich verschwindet er.

Ich frage mich, ob ihm klar ist, dass er gerade über den Tod meiner Zwillingsschwester geredet hat. Mir ist schlecht. Ich weiß nicht, ob vor Nervosität oder Schuldgefühlen. Da sitzen wir und warten. Warten darauf, dass ein Mensch stirbt... ich bin nicht besser als die dort außen.

Um mich abzulenken wende ich meine Aufmerksamkeit wieder Iven zu: „Iven, werden wir uns überhaupt wieder sehen?" „Sag sowas nicht, natürlich werden wir das. Im Notfall schleiche ich mich rein und besuch dich", erwidert er zwinkernd und ich lache über diese Unsinnigkeit, weil ich mittlerweile weiß, dass es vermutlich leichter wäre in ein Warehouse einzubrechen, als ohne Identifikation in einen Gated Community Bezirk reinzukommen. „Darf ich dir dann noch eine Frage stellen?", bitte ich ihn und warte sein Nicken ab, bevor ich fortfahre: „Du meintest, dein Name würde so viel wie der Bogenschütze bedeuten. Hast du ihn dir selbst ausgesucht?"

Iven schweigt kurz, als müsse er erst die richtigen Worte suchen: „Ja. Einem Spare fliegt sein Name nicht so leicht zu - normalerweise. Als ich außen war und begriffen hab, um was ich betrogen wurde, fühlte ich mich so leer und allein gelassen. Ich wollte etwas tun, mehr noch als einfach den Reif abzulegen. Ich wollte jemand anders sein, mich nicht mehr so machtlos fühlen. Deswegen dieser Name. Er erinnert mich daran, dass du selbst es bist, der sich dafür entscheidet zu kämpfen. Dass dein Handeln die Welt beeinflusst. Dass ich mehr bin, als ein Produkt in ihrem Geschäft." Er hebt sachte den Kopf und sein Blick schweift ab und durchdringt die Wände: „Ich bin nicht länger machtlos. Ich habe eine Waffe zum kämpfen. Mein Wissen, meinen Schmerz, meine Liebe zum Leben."

Er klingt weit weg, fast bedauere ich, diese alte Erinnerung in ihm geweckt zu haben. Sein Gesicht ist zu einer harten Maske verzogen und dennoch zeichnen seine Gedanken weiche Spuren um seine Augen. Er wirkt so kämpferisch und gleichzeitig verzagt, leidenschaftlich und schmerzerfüllt. Der lange Blick, welcher schweigend auf mir liegt, rührt dabei einen Teil meines Herzens, den ich nicht benennen könnte.

Es ist still um uns gewordenen, die Luft ist von einer Vorahnung erfüllt, die prickelnd über meine Haut wandert und meinen ganzen Körper elektrisiert.

Meine Finger streicheln über den weichen Stoff des Sofas. Es ist zu leise in diesem kleinen Raum. Als ich hinunterblicke fühlt sich das Rot an meinen Fingerkuppen falsch an. Rot wie die Schuld, die mich immer fort begleitet. Wie das Blut, das an meinen Händen klebt. Das Blut derer, die ich nicht retten konnte und nicht retten werde. Meine Schwester. So viele aus dem brennendem Warehouse.

Ruven.

Ich weiß, dass der Schwermut meine Augen umwölkt, ich habe ihn schon oft in Ivens Gesicht schleichen sehen. Als ich meinen Blick aufrichte, ist er hilfesuchend. Das Schweigen umhüllt uns wie ein schwerer Mantel, er erwidert meinen Blick nur tonlos. Sein Gesicht spiegelt meinen eigenen Schmerz wieder.

Auf seinen Lippen liegt eine unausgesprochene Frage.

Dann küsst er mich.

Seine warmen, weichen Lippen umfangen meine und lassen die Welt um mich herum verblassen. Ich recke mich ihn instinktiv entgegen und vergrabe meine Finger in seinen Haaren, während er zärtlich mein Gesicht in seine Hand nimmt. Der Kuss ist sanft und fordernd zugleich, voller bitterer Verzweiflung und trotzdem süß. Er ist wie eine Erlösung.

Ich habe schon von Küssen gelesen, aber mir nie so erträumt. Ich weiß noch, wie ich mir immer vorstellte ein Junge würde mich mal so küssen, wie die Heldinnen in den Büchern,

er hatte immer das Gesicht von Ruven.

Als mir klar wird was ich da gerade denke, ziehe ich ruckartig den Kopf zurück und starre entsetzt in das verwirrte Gesicht von Iven. „Es tut mir so leid. Ich..., wollte dich nicht überfordern", sagt er und scheint aufrichtig bestürzt.

Um mich herum dreht sich alles, ich schlage die Hand vor den Mund und renne wortlos aus dem Zimmer.

In meinen Kopf hämmert nur ein Gedanke. Warum, schreit er. Warum hat er dich geküsst. Warum hast du nicht nein gesagt. Warum musstest du an Ruven denken. Warum bist du einfach davon gerannt...

Ich sitze auf meinem Bett im Schlafsaal und fühle mich schon wieder schuldig. Und überfordert.

Ich wollte dich nicht überfordern hat er gesagt. Das ist ihm nicht besonders gut gelungen. Wenn ich die Augen schließe fühle ich noch immer die Hitze des Kusses und wenn sie offen sind, sehe ich Ruvens Augen vor meinen – sie sind anklagend.

„Alice", seine Stimme klingt zögerlich und verletzt. Ich wollte ihn nicht verletzen. Langsam nähert er sich vom Türrahmen und lässt sich vor mir auf den Boden sinken. Er berührt mich nicht. Sieht mich nur an, fragend. Innerlich blutet mein Herz, weil ich nicht weiß, was das für Gefühle in mir sind und die Gedanken zu schnell kreisen, so dass mir ganz schlecht wird.

„Ich hätte mich nicht dazu hinreißen lassen dürfen", sagt er traurig. Wenn ich doch nur nicht so durcheinander wäre. Er verflicht seine Finger mit meinen und sagt nichts. Ein Teil von mir würde ihn gerne küssen. Der andere Teil will wieder wegrennen, irgendwo hin, wo es keine Fragen und keine Menschen gibt. Einfach weg.

„Es ist so weit. Wir haben alles vorbereitet und ich bin zuversichtlich, dass wir den Austausch ohne größere Komplikationen durchführen können", meint Forton selbstzufrieden und stolziert in den Saal. Unsere aufgewühlten Gesichter scheint er nicht einmal zu bemerken.

Im Schlepptau hat er nicht nur seine Berater, sondern auch Susen, die Krankenhelferin.

„Es gibt allerdings eine kleine Planänderung. Wir werden dir ein Mittel verabreichen, dass dich für die nächsten Stunden schlafen lässt. Für dich ist es besser, wenn du von dem Austausch nichts mitbekommst. So ist es leichter", er lässt Susen an sich vorbei treten und sieht mich abwartend an. „In Ordnung", meine ich schlicht und denke eigentlich nur daran, dass Iven gerade wie ertappt seine Hand aus meiner gezogen hat.

„Ich werde dir diese Flüssigkeit injizieren, du wirst dich kurz schläfrig fühlen und dann das Bewusstsein verlieren. Wenn du wieder aufwachst, bist du im Krankenhaus und die Operation hat gerade stattgefunden", erklärt Susen sanft und zeigt mir wie sie die Spritze an meiner Armbeuge ansetzt. Ich nicke. „Noch eines: Wir werden erst nach ein paar Tagen versuchen mit dir in Kontakt zu treten. Versuch einfach unauffällig weiterzuleben und dich anzupassen, wir melden uns wenn es für notwendig erachtet wird", fügt Forton hinzu, während ein kleiner, mir durchaus vertrauter Schmerz meinen Arm hochjagt. Ich merke wie sich die Flüssigkeit um die Einstichstelle verbreitet, es ist ein widernatürliches Gefühl. „Wunderbar, bereitet alles vor, damit wir den Transport unverzüglich beginnen können. Und Susen danke sehr", meint Forton im Gehen zu allen und verlässt den Raum.

Ich weiß nicht, ob es an dem Mittel liegt, dass sie mir gegeben haben, aber ich habe das Gefühl als sei ich mit Iven alleine im Raum. Vielleicht sogar alleine auf dieser Welt. Mir ist dämmrig zu Mute, doch plötzlich greift die Angst mit ihren eisigen, grauen Klauen nach mir. Vielleicht soll ich ja operiert werden und sie erhält mein Herz. Vielleicht ist das die Taktik der Warehouses. Vielleicht sterbe ich gerade. Ich habe so wenige Antworten auf meine Fragen.

Doch dann finde ich Ivens sanfte Augen und ich werde ruhiger. Schließlich werden die Lider schwer und bevor ich weggleite, erahne ich den Hauch zarter Lippen auf meinen.

Ich könnte nicht sagen, ob es schon Traum oder noch Wirklichkeit ist.



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