Spares - Sag mir wer ich bin

By AlessandraWinter

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„Sie sind nicht unsterblich Alice. Mach sie nicht zu den Göttern, für die sie sich bereits ohnehin halten. Si... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20

Kapitel 5

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By AlessandraWinter

Das Kapitel heute enthält eine Widmung an the_world_in_books und darkangel25774

Danke, dass ihr mir mit euren lieben Kommentaren ein Lächeln ins Gesicht zaubert und mich an meine eigene Geschichte glauben lasst.

***

Sie stürmen in dunkelgrauen Uniformen auf mich zu, immer schneller, erbarmungslos.

Ich bleibe stehen und warte, denn ich weiß, der Tod rückt näher, immer schneller, erbarmungslos.

Sie heben Waffen, schwarz wie der Tod und Bumm, Bumm ... bohren sich Glassplitter in mein Herz.

Ich sinke auf die Knie und lege die Hände auf die Brust, spüre meinem Herzschlag nach, während er langsam schwächer wird.

Ganz sanft fallen leuchtende Tropfen auf den grauen Boden, tödlich rote Flammen auf dem tristen Alltag der Angst.

Und ticktack bewegt sich der Zeiger stetig – unaufhaltsam- vorwärts.

Die Zeit läuft ab...


Schweißüberströmt richte ich mich auf.

Schon seit einer Woche bin ich hier und noch immer verfolgt mich dieser Alptraum. Er lässt mich ebenso wenig los, wie meine Erinnerung an diese eine Nacht.

Denn diese Erinnerungen sind klar, wie die glasigen Scherben, die sich im Traum in mein Herz bohren.

...so als wären all meine Tränen zu Glas gehärtet.

Und in dieser neuen Welt mit den vielen Gesichtern und den vielen Antworten geben sie mir ein neues Wort für das neue Gefühl,

sie nennen es Trauer,

aber sie scheinen nicht zu ahnen, dass sich dieser tiefe brennende unerträgliche Schmerz niemals in nur ein Wort fassen ließe.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, starre ich stur auf das Leinen, welches mein Bett von den anderen trennt. Es ist ein schlichter, weißer Stoff, den sie als Vorhang bezeichnen. Er birgt ich vor neugierigen Blicken, sperrt mich aber auch weg... schon wieder.

Hier habe ich Zeit zum Nachdenken. Ich denke an ihn, sein Gesicht, sein Lächeln und immer wieder an seine leblosen Augen.

Ich denke an Schuld, die ich auf mich geladen habe und an die tonnenschwere Schuld, die die Protektoren tragen.

Ich denke an Schuld und an Rache und daran, dass Worte so treffend sie sind, manchmal nicht alles beschreiben können. Weder die Last, die auf meinen Schultern ruht, noch den Schmerz in meinem Herzen, noch der Hunger nach Vergeltung. Sie nennen es Schuldgefühl, Trauer, Rachedurst. Keins der Worte hilft mir. Ich denke viel – und ich weine.

Aber oft erwische ich mich wie ich nur stumpf auf einen Fleck starre, sollen die anderen doch denken ich sei versunken, krankhaft traurig, ich will – und kann- es nicht rechtfertigen... es macht mir ja selbst Angst, wie ich nur einen Punkt fixiere und sich die Leere mit jeder Minute kriechend ausdehnt.

An die Momente außen erinnere ich mich kaum, ich weiß nur dass ich ohne ihre Hilfe nicht rausgekommen wäre. Grelles Licht, das hin und her schwenkt, gebrüllte Befehle, Schreie, Zäune, quietschende Metallungeheuer, noch mehr Rufe, so entsetzlich viele ohrenbetäubende Schüsse ... und ich, die orientierungslos durch die Dunkelheit und blendende Lichtkegel taumelt. Das alles hat sich eingebrannt, aber es ist vielmehr der flüchtige, schmerzliche Eindruck, als eine klare Erinnerung an die Flucht.

Mit einem Mal durchdringen Stimmen die wabernde morgendliche Ruhe, Schritte nähern sich und schließlich wird der Vorhang beiseite gezogen. „Alice? Würdest du dich bitte zum Frühstück fertigmachen?", bittet Susen und dreht sich auch schon um. Ich hole aus der Schublade die Klamotten, die sie mir gegeben hatten, als ich das erste Mal das Bett verlassen konnte. Eine schwarze Hose und ein weißes Oberteil mit einer einfachen schwarzen Jacke. Meine andere, graue Kleidung liegt längst irgendwo im Müll, wo das Blut schon lange getrocknet ist und das Grau wohl in düsterer Ahnung noch dunkler als bereits ohnehin gefärbt hat.

Als ich mich in dem großen Essensraum - der Cafeteria - zu einigen von ihnen an den Tisch setze, blicken sie mich lächelnd an. Ich habe mir eine Packung schokoladiger Flocken geholt, die Müsli heißen und fülle den Inhalt in eine Schüssel mit Milch, löffle sie schweigend, während die anderen über eine Vielzahl von Themen reden, von denen ich noch nie gehört habe und bei denen sie gelegentlich mit so bedeutungsschwerer Stimme sprechen, dass sich mir angesichts dieser großen unbekannten Welt der Magen zusammenzieht.

Als Lydia das Wort an mich richtet ziehe ich erschrocken den Kopf ein, sie ist klein, hat schulterlange glänzend rote Haare, funkelnde Augen und dazu einen barschen Tonfall, der mich, um bei der Wahrheit zu bleiben, ausgesprochen nervös macht. Ich habe nicht nur Respekt vor ihr, sondern vielmehr fürchte ich mich und ich denke nicht, dass dies unbegründet ist. Sie hat zu Allem eine Meinung... auch zu mir und die scheint nicht besonders hoch zu sein.

„Also, Alice", beginnt sie gedehnt und durchbohrt mich mit einem langen Blick: „Wie kommt es, dass du uns als einzige von den Spares einen richtigen Namen nennst?" Einige am Tisch drehen sich neugierig zu mir, andere blicken entrüstet zu Lydia, was auch immer sie gesagt hat, hat die unsichtbare Grenze von Darf sie wissen und Darf sie nicht wissen überschritten. „Was sind Spares?", erwidere ich neugierig und überlege was sich für eine Beleidigung dahinter verbergen könnte, die sich mir schlicht nicht erschließt, wie es mir hier sooft mit den Dingen ergeht. „Das erzählen wir dir in Ruhe, bald", erwidert ein Mann namens Joe und bedenkt Lydia mit einem vorwurfsvollen Blick. Sie scheint schuldbewusst, was sie jedoch nicht davon abhält weiter zu machen: „Jetzt sag schon." Der unausgesprochene Teil hängt noch frei in der Luft: was stimmt mit dir nicht? Ich überhöre ihn nicht, bin allerdings überfordert. Ich bin nach allen gängigen Maßen durchschnittlich, sieht man einmal von meinem recht rebellischen Gedanken gegenüber den Protektoren ab, doch der Witz ist, dass diese Maßstäbe in dieser Welt wohl kaum gelten. Was stimmt also mit mir nicht. Noch eine Frage, auf die ich keine Antwort weiß.

Aber ihre erste, die kann ich beantworten. Ich denke zurück an einen meiner ersten Tage im Trakt 3. Jemand hat mal erzählt es gäbe tatsächlich drei davon, aber ich erinnere mich nur an zwei. An diesem Tag war ich heillos überfordert in den Freistunden durch die Gänge geschlichen, ich kannte kaum jemanden und genauso wenig die Umgebung, man hatte zuvor einige der Älteren - unteranderem auch mich - aus Trakt 2 umgesiedelt, das geschah in regelmäßigen Abständen, aber niemand hatte sich je die Mühe gemacht es uns Winzlingen zu erklären. Auf meiner planlosen Suche nach den Zimmer-Abteilen, um mich dort in meinem Bett zu verkriechen, war ich mit einem Mal im Zimmer mit den Büchern gelandet. Es waren so viele gewesen, atemberaubend. Tagein tagaus war ich in der folgenden Woche bei Freizeit in der hintersten Ecke gesessen - zwischen Stapeln von Büchern verschanzt - und hatte gelesen. Dort hatte ich schließlich auch ihn getroffen, Ruven.

„Wir hatten uns gerade erst angefreundet, noch ein bisschen schüchtern hatte er mir damals ein Buch mit grünen Einband in die Hände gelegt und gemeint: Hast du es gelesen? Es ist toll, ich wäre gern wie er, er ist mutig, klug und erlebt lauter Abenteuer. Wenn ich mal groß bin, dann werde ich wie er. Ich weiß nicht, wie er darauf kam, aber über all die Zeit identifizierte er sich mit dem Held in diesem Lieblingsbuch, auch wenn der Teil mit den Abenteuern ausblieb." Ich stocke einen Moment, bevor ich fortfahre: „Es hat ein wenig gedauert, bis ich ihm mein Buch anvertraute: Als er es gelesen hatte, meinte er zu mir in diesem ihm zu eigenen von Herzen aufrichtigen Tonfall: du bist genauso schön und clever wie sie. Ihr vermutet wohl richtig, welche Namen die beiden Helden der Geschichten hatten. Ich schätze dieser Satz war der Moment, ab dem wir für uns die Zahlen ablegten, weil die Worte der Geschichten uns so sehr verzaubert hatten." Und auch der Moment, ab dem wir unzertrennlich wurden füge ich in Gedanken hinzu, weil es die Wahrheit ist und ich sie aussprechen will, um ihn nicht zu vergessen, aber nicht vor ihnen, die so fremd und so anders sind. Und so formen nur Gedanken statt Lippen die Worte. Wahr und schmerzhaft.

Der gesamte Tisch schweigt als ich geendet habe und ich bin sicher, dass mein Herz für einige Sekunden aussetzt, es schmerzt so unerträglich über ihn zu sprechen. Ich erinnere mich so gut an diesen Tag, an sein kindliches Gesicht vor den Bücherregalen. Er hatte eine verdammte Zahnlücke zwischen den beiden Schneidezähnen.

Wie gerne würde ich heute meinen Kopf an seine Schulter lehnen und ihm sagen, dass er ein viel besserer Ruven, als der Held aus dem Buch ist... war. Nicht nur mutig und klug, sondern auch einfühlsam, ruhig, gutaussehend, stark und humorvoll.

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