"Jetzt weiß ich, was ein Geist ist. Eine unerledigte Aufgabe, das ist es."
Salman Rushdie
*
"Siebenunddreißig?"
Ich sank in meinem Sitz zurück und zuckte verlegen mit den Schultern.
Und zählte...
Siebenunddreißig suspekte Tode in den letzten zwei Jahren. Ich war mir nicht sicher, was zur Hölle in dieser Stadt vor sich ging und Nona auch nicht. Ich war nur überrascht, dass ich nie von diesem Ort gehört hatte oder wieso die Schule die höchste Mordrate hatte, die ich jemals gesehen hatte, die nicht in den Nachrichten vorgekommen waren. Niemand schien es erklären zu wollen und als ich im Sherrif Department angerufen hatte, war mir höflich gesagt worden, dass ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte.
Ich musterte meine Nona, während sie den Stapel an Papier las, den ich ihr gegeben hatte. Ich hatte auf etwas, alles gewartet, das in den letzten Stunden aus ihrem Mund hätte kommen könnte, aber alles, was ich bekam, war Gähnen und Seufzen. Ich wollte bloß, dass sie etwas sagte. Ich wollte sie sagen hören, dass ich etwas tun konnte, weil ich mich im Moment nutzlos fühlte.
Vielleicht war ich einfach müde.
Ja, das war es. Ich hatte seit guten zwei Tagen nicht mehr geschlafen, vielleicht sogar länger. Ich konnte nicht. Jedesmal, wenn ich meine Augen schloss, sah ich die Erdbeerblonde den Namen schreien. Allison. Allison Argent. Nach tagelanger Suche, hatte ich sie endlich in Beacon Hills orten können. Es war nur eine dreistündige Autofahrt von hier entfernt und ich hatte seit Stunden gehofft, dass ich gehen könnte.
Ich musste meinen Kopf schütteln, als sie von meinem Bett aufstand und ein Bild auf das Whiteboard klebte, das ich letztes Jahr an die Wand gehangen hatte. Es war praktisch, besonders wenn ich einem Fall mit einem Geist auf die Sprünge kommen wollte.
Ich musterte es und sie reichte mir den Polizeibericht. Sie hatte mich schon gefragt, wie ich dazu gekommen war, eine ganze Box damit aus Beacon Hills herbestellen zu lassen, aber ich war nicht sicher, ob ich ihr erzählen konnte, dass Estelle meine Geheimwaffe war. Sie hatte ihre Kontakte und sie wusste, wie man mit den Leuten umzugehen hatte und Gott sei dank hatte sie es irgendwie geschafft, an diese kleine Stadt heranzukommen.
"Wonach sieht das für dich aus?" Fragte Nona mich. Sie deutete auf jede der großen Kreaturen auf den Bildern und blickte zu mir zurück. Ich wusste exakt, was sie waren, ich war nicht so blind in dieser Welt wie sie dachte. Sie mochte ihr Leben in der übernatürlichen Welt nicht mit mir teilen, aber trotzdem wusste ich viel darüber.
"Sie sind auch nicht die selben. Sie sind andere Menschen."
Ich betrachtete den Polizeibericht den sie mir gegeben hatte und sah dann zurück zu den Fotos von dem Filmladen. Die roten Augen der Kreatur bohrten sich in meine Seele und dann bemerkte ich das Gesicht im Wagenfenster dahinter, die Rothaarige aus meinem Traum.
"Lies es." Wies Nona mich an.
"Ich weiß, was da steht, Nona." Ich setzte mich wieder, aber sie ließ nicht locker. Ich hatte die letzten vierundzwanzig Stunden damit verbracht, jede einzelne Seite durchzugehen, die Estelle mir gegeben hatten, aber Nona war beharrlich.
Ich nahm einen tiefen Atemzug.
"Am Freitag, den 26. August 2011 um 21:45 Uhr, ich, Sheriff John Stilinski, expedierte Video 2 C, um einen Tierangriff zu überprüfen. Beim Tatort traf ich Jackson Whittemore, der behauptete, ein Berglöwe habe ihn im Laden attackiert, während seine feste Freundin, Lydia Martin, draußen im Auto wartete. Whittemore bestätigte, dass er James Bradshaw, den Angestellten des Ladens, mit herausgerissener Kehle gefunden habe..."
"Es war kein Tierangriff."
"Ich dachte, das hätten wir bereits durchgekaut, Nona?" Sagte ich, während ich zurück zu der hässlichen Kreatur mit den feurigen Augen blickte. "Ich weiß, was sie sind, aber das heißt nicht, dass ich nicht helfen kann. Niemand weiß, was in dieser Stadt vor sich geht, außer denen, die es vertuschen wollen. Ich glaube, Allison wusste es und ich glaube, dass sie denkt, dass es wichtig ist."
"Allison? Das Mädchen aus deinen Träumen?"
"Nein." Sagte ich, als ich zurück zum Whiteboard ging und ein Stück rotes Klebeband auf das Bild vom Filmladen klebte. "Ich glaube das ist sie, die Rothaarige." Ich blickte zurück zum Polizeibericht und nahm einen Textmarker. "Lydia Martin. Sie ist diejenige in meinen Träumen. Sie schrie Allison's Namen."
Ich schrieb ihren Namen über das Foto, nahm ein Bild von Allison und klebte es neben sie an's Board.
"Ich muss ihr helfen."
"Allison war diejenige, die die sagte, dass jemand sterben würde?" Nona ließ die Fotos auf mein Bett sinken und ich verdrehte meine Augen, wünschte mir, dass sie mir in den letzten eineinhalb Stunden zugehört hatte.
"Sie sagte mir nicht, dass jemand sterben würde. Es war nur ein Gefühl von mir." Erklärte ich ihr und schrieb ihren Namen über das Foto. Ich nahm ihre Todesanzeige von dem großen Stapel an Toden und reichte sie ihr. "Allison Argent. Sie war siebzehn und sie wurde angeblich ermordet. Die Papiere sagen, ein Autorennen wäre falsch gelaufen, aber als ich sie in meinen Träumen sah, es war kein - es war kein Autorennen."
"Und was, wenn dieses Gefühl du warst?"
"Ich wäre in der Lage, den Unterschied zu erkennen."
"Emelia, ich glaube nicht -"
"Nona, bitte?" Unterbrach ich sie, bevor sie nein sagen konnte. "Etwas wird passieren und ich glaube nicht, dass diese Albträume aufhören, bis ich gehe. Du hast selbst gesagt, dass der einzige Grund, wieso ich nicht mit Allison reden kann, ist, dass ich zu weit weg bin. Ich muss dorthin. Ich muss mit ihr reden."
"Du musst gar nichts tun, Emelia."
"Nona?"
"Stop!" Zischte sie und ich lehnte mich auf meinem Bett zurück. Sie hatte noch nie so die Stimme gegen mich erhoben und obwohl ich wollte, dass sie mich verstand, war ich nicht sicher, ob sie das würde. "Du bist siebzehn, Emelia und dein ganzes Leben lang würdest du vom Tod verfolgt."
Nona riss eine Mappe auf und zeigte mir ein Foto von einem verstümmelten Teenager. Ihre Gliedmaßen wurde nur durch Fragmente aus Haut und Knochen zusammengehalten, es hätte mir Angst gemacht, wenn ich mir das Foto nicht schon eine Nacht lang angesehen hätte. "Ist es das, was du willst? Ich verstehe, dass du denkst, du kannst helfen, aber das kannst du nicht. Beacon Hills ist kein sicherer Ort für Leute wie dich. Also lass es einfach gut sein."
"Ich kann sie warnen!"
"Lass es gut sein, Emelia."
"Ich kann es nicht einfach sein lassen, Nona. Etwas kommt auf sie zu, etwas über das sie sich nicht bewusst sind. Allison wusste, was wirklich in dieser Stadt passieren würde, was auch immer dort passiert, hat sie wirklich aufgeregt. Ich will doch nur mit ihr reden."
"Ich sagte, lass es gut sein."
"Wie soll ich das deiner Meinung nach anstellen, wenn ich jedesmal wenn ich meine Augen schließe, dieses Mädchen in meinen Träumen schreien sehe. Etwas wird mit ihnen passieren und obwohl du denkst, ich kann es nicht, weiß ich, dass ich helfen kann. Ich habe diese Gabe aus einem Grund und es geht um Zeit, es macht etwas anderes, als mich nur zu einer Außenseiterin zu machen."
Ich konnte sagen, dass sie das Gespräch satt hatte, aber ich wusste auch, dass wenn ich es richtig spielte, sie eventuell nachgeben würde. Nun, zumindest hoffte ich das. Sie hatte nie ein Problem damit gehabt, wenn ich in solche Situationen involviert war, meistens ließ sich mich alles allein herausfinden.
"Ich will heute Nacht nichts mehr davon hören."
"Nona."
"Genug, Emelia."
Nona schmiss die Papiere, die sie gehalten hatte, zurück auf das Bett und seufzte, als sie die Schlafzimmertür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Ich konnte es nicht glauben. Ich hätte einfach gehen, meine Tasche packen, eine Nachricht hinterlassen und mich ins Auto setzen sollen. Ich war achtzehn, nun ja fast achtzehn und ich bekam Hausunterricht, also würde mich niemand vermissen.
Ich könnte dort hin und wieder zurückgefahren sein, bevor sie von der Arbeit kam.
Warte.