Der Ruf des Schattensängers

By selihal

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[Azriel Fanfiction nach „Das Reich der Sieben Höfe" 3] Seit dem Sieg gegen Hybern ist Azriel, der Schattensän... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37

Kapitel 20

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By selihal

MELANY

Als Azriel und ich gestern nach unserem Gespräch wieder auf der Feier waren, konnten wir weder Cassian noch Nesta finden. Ich wusste, dass ich mich nicht einfach so von der Feier schleichen und zurück zu meinem eigenen Zuhause gehen konnte. Ich hatte keinerlei Interesse daran, die Vereinbarung mit Nesta weiterhin aufrecht zu halten. Schon gar nicht, seit Rhysand meine Magie ohnehin gesehen hatte, womit Nestas Druckmittel jegliche Macht verloren hatte. Doch ich war ehrlich mir gegenüber: Auch wenn Azriels Gesichtsausdruck beim Anblick meiner Magie, die seine Schatten verjagt hatte, eine gewisse Enttäuschung in mir ausgelöst hatte, wollte ich ihm nah sein. Ich wollte nicht von seiner Seite weichen. Deshalb weigerte ich mich am Ende der Feier gegen Sonnenaufgang auch nicht, mit ihm, Elain und Mor zurück zum Stadthaus zu gehen. Diese Nacht noch, redete ich mir ein. Diese eine Nacht würde ich noch hierbleiben und früh am Morgen Nesta sagen, dass ich nach Hause gehen würde.

Ich hatte kaum Schlaf bekommen. Es lag vor Allem an der Gewissheit, dass Azriel den Flur hinunter in einem anderen Schlafzimmer war. Dass wir uns in demselben Haus befanden. Lange hatte ich an die Decke gestarrt, war schließlich aufgestanden und an das Fenster getreten. Die Sonne war schon halb über dem Horizont zu sehen gewesen, als ich mich endlich dazu bewegen konnte, zurück unter die Bettdecke zu schlüpfen und die Augen zu schließen. Nach einigen Stunden war ich wieder wach. Ich hatte wieder nicht geträumt. Die Träume blieben schon seit drei Tagen aus, seit den Halluzinationen im Archiv. Als ich am Morgen aufwachte, überkam mich die plötzliche Sorge, dass ich nie wieder diese Träume haben würde. Dass ich nie wieder von Schatten umgeben sein würde, die Azriels so sehr ähnelten und mich im Schlaf trösteten. Die Sorge machte schließlich der Bedrücktheit Platz. Auch wenn ich erst seit einigen Minuten wach war, spürte ich bereits die schlechte Laune, die ich vermutlich den ganzen Tag über haben würde.

Ich hörte einige Geräusche aus dem Erdgeschoss, was bedeutete, dass der Haushalt schon wach sein sollte. Ich machte mich deshalb schnell fertig, zog mir ein schlichtes hellblaues Kleid an und flocht mir die Haare seitlich zu einem Zopf. Vielleicht könnte ich direkt vor dem Frühstück noch mit Nesta sprechen und mich aus unserer Abmachung herausreden. Dieses überdeutliche Ziehen in meiner Brust erinnerte mich nur noch mehr an den Illyrianer mit den goldenen Augen, der vermutlich ebenso unten bei seiner Familie saß. Mit dem ich den Rest der Woche zusammenleben müsste, solange Nesta darauf bestand, dass ich hierblieb. So verlockend der Gedanke auch war, so war die Erinnerung an Azriels Reaktion von letzter Nacht umso präsenter. Ich gab es nicht gerne zu, aber es hatte mich verletzt. Nicht, weil ich glaubte, dass er mir absichtlich wehtun würde, oder gar wehtun wollte. Sondern, weil ich dachte, diesmal wäre es anders. Diesmal gäbe es jemanden, der nicht vor meiner Magie zurückwich. Doch ich hatte mich geirrt. Wieder einmal. Nur war es dieses Mal schmerzlicher, als ich es erwartet hatte.

Mit mäßigen Schritten ging ich den Flur entlang und versuchte beim Hinuntergehen der Treppen zu entziffern, wessen Stimmen aus der Küche zu hören waren. Es war ein komplettes Wirrwarr aus Gelächter, Gesprächen und Küchenbesteck. Schon wieder dieses Ziehen in meiner Brust. Doch plötzlich veränderte sich die Geräuschkulisse - alle wurden etwas leiser und das Gelächter verklang. Hatten sie etwa gehört, dass ich mich näherte?

Ich ging um die Ecke und blickte dann durch den Türbogen zur Küche. Langsam wandten sich die Blicke zu mir, wobei ich bewusst den von einem goldäugigen Illyrianer mied. Stattdessen sah ich direkt in die Gesichter meiner High Lady, meines High Lords und Morrigan. Keine Spur von Cassian und Nesta. Es war, wie als wären sie seit gestern Nacht wie vom Erdboden verschluckt.

»Guten Morgen«, sagte ich leise und lächelte schüchtern. Ich hatte in den siebzig Jahren meines Aufenthaltes in Velaris nicht einmal den High Lord persönlich gesehen und jetzt sah ich ihn seit einigen Tagen beinahe täglich. Bei Gott, ich stand in seinem Haus. Ich wusste nicht, wie man sich in solch einer Situation verhalten sollte.

»Guten Morgen Mel, komm doch rein«, flötete Feyre und winkte mich mit der Hand hinein. Mit dem Blick auf den freien Stuhl neben Mor - und gegenüber von Azriel - ging ich die paar Schritte hinein und setzte mich.

Ich blickte stumm durch die Runde - Mor hatte sich wieder ihrem Essen gewidmet, Feyre und Rhysand hatten ein Gespräch angefangen, und Azriel... Nunja, er sah mich wie erwartet an. Ich erlaubte es mir, kurz in sein Gesicht zu schauen und zu lächeln. Erleichtert blinzelte ich, als mein Lächeln erwidert wurde. Zumindest war es nicht ganz so komisch zwischen uns, wie ich gedacht hatte.

Stumm reichte er mir einen Korb mit Gebäck, den ich stumm dankend annahm. Ich legte mir etwas auf den Teller, ehe ich zu Mor schaute und sie fragte, ob sie noch mehr wolle. Sie grinste nur schief und griff in den Korb. Ich gab ihn Azriel zurück, der ihn wieder an seinen Platz stellte.

»Möchtest du Tee?« Ich blickte zu Feyre auf, die mir eine Tasse hinhielt. Meine Antwort erübrigte sich also.

»Danke«, sagte ich lächelnd und nahm ihr die blumige Porzellantasse ab. Es roch nach Pfefferminz und Limette. Derselbe Tee, den es auch am Tag unseres Brunchs gab. An dem Tag, wo ich Azriel das erste Mal begegnet war. Mein Blick huschte kaum merklich zu ihm. Er schaute gerade auf sein Gebäck, als er beim plötzlichen Aufsehen, meinem Blick begegnete. Ein Funkeln trat in seine Augen und seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, sodass ich ruckartig den Blick zurück auf meinen Teller richtete. Schon wieder ein Ziehen in meiner Brust, ein Holpern meines Herzens. Nein, ich musste wirklich wieder nach Hause.

»Wo sind denn Nesta und Elain?«, fragte ich und hob den Kopf, um Feyre in die Augen zu blicken. Rhysand lachte neben ihr in sich hinein und Mor verschluckte sich an ihrem Kaffee. Selbst Azriels Grinsen wurde breiter.

»Habe ich was verpasst?«, fragte ich verwirrt, aber amüsiert. Feyre biss sich auf die Lippe und schüttelte langsam den Kopf. Ich hatte das Gefühl, dass sie alle vor Belustigung platzen würden, wenn ich weitere Fragen stellte. Deswegen sah ich meine Freundin nur mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Elain ist im Garten«, sagte Feyre nur mit gepresster Stimme und schlug die Lider nieder. Ein lahmer Versuch, ihr Lachen zurückzuhalten.

»Und Nesta?« fragte ich vorsichtig, konnte mir angesichts der belustigten Grimassen das Lächeln nicht verkneifen.

Mor war diejenige, die mir antwortete. »Cassian und Nesta sind für eine Weile nicht erreichbar.« Ich sah sie verwirrt an. Ich hatte eine Ahnung, worum es gehen könnte, doch es war unmöglich, dass die anderen davon wussten. Mor wandte sich an Feyre: »Was denkst du, wie lange deine Schwester der illyrianischen Ausdauer standhalten kann?«

Das war wohl der letzte Tropfen, denn auf der Stelle verfielen alle in lautes Gelächter. Selbst ich konnte mich nur schwer zurückhalten. Feyre wischte sich Tränen aus dem Augenwinkel weg, während Mor sich den Bauch hielt.

»Dann hat sie es ihm also endlich gesagt«, sagte ich kichernd und zuckte mit den Schultern, während ich nach einem Gebäckstück auf meinem Teller griff.

Alle Köpfe schossen in meine Richtung, ohne jedoch das Grinsen zu verlieren. »Du wusstest davon?«, fragte Feyre unter Gekicher.

Ich legte die Teigtasche ungerührt zurück auf den Teller und nickte lächelnd. »Im Grunde haben Nesta und ich es gemeinsam rausgefunden.«

Rhysand zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wie das?«

Ich hob meine Hand, hielt sie knapp über die Mitte des Tisches und ließ meine Magie an die Spitzen meiner Fingerkuppen treten. Auf der Stelle ging Licht davon aus. »Ich weiß nicht, wie ich es gemacht habe, aber es war, wie als hätte sich das Band ihrer Seelenverbindung offenbart, als ich nach Nestas Hand gegriffen habe.« Ich schielte zu Azriel, der einen undurchdringlichen Blick aufgesetzt hatte. Auf der Stelle senkte ich meine Hand und schluckte, bevor ich mich wieder an meinen High Lord wandte. »Ihr ging es an dem Tag nicht gut. Und plötzlich war da diese Einsicht.«

Feyre lächelte leicht und nickte dann. »Sie hatte mir erzählt, dass sie es rausgefunden hatte, aber nicht, dass du dabei warst.«

Auch ich lächelte leicht. »Nesta hatte mir versprochen, niemandem von meinem Geheimnis zu erzählen. Ich habe nie daran gezweifelt, dass sie das Wissen über meine Magie für sich behalten würde.« Ich wagte es gar nicht, in Azriels Richtung zu schauen. Das Gespräch von letzter Nacht hing unausgesprochen zwischen uns. Ich legte meine Hand nur an meine Teetasse und spielte am Griff. »Das war auch der Grund unseres Streits gewesen«, sagte ich leise. Feyres Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Darum ging es also?«, fragte sie. »Ihre verborgene Seelenverbindung mit Cassian?«

»Du weißt ja selbst, welch Schwierigkeiten sie hatte, es zu akzeptieren.« Erneut nickte Feyre.

»Ich bin nur froh, dass es endlich raus ist.", sagte Mor, "und die beiden sind es sicherlich auch, wenn man bedenkt, dass sie schon seit der Feier nicht mehr aus ihren Räumen im Haus der Winde gekommen sind.« Sie stupste mich mit der Schulter an. Ich spürte erneut ein Erröten, grinste  jedoch zur Antwort. Ja, ich war auch froh darüber. Nesta hatte lange gebraucht, um diese Einsicht zu akzeptieren und schließlich auch Cassian davon zu erzählen; ganz zu schweigen davon, diese Verbindung einzugehen.

Rhysand räusperte sich und zog so die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich. Sein Blick galt mir, und ich versuchte gelassen zu wirken. Nicht so, wie als würde gerade der mächtigste High Lord vor mir sitzen, sondern wie der Seelengefährte meiner Freundin. Ein normaler Fae. Das versuchte ich mir beim Blick in seine durchdringlichen violetten Augen einzureden. Er ist auch nur ein Fae.

»Ich würde gerne mehr über deine Magie wissen, Melany«, sagte Rhysand direkt. Ich blinzelte ein paar Mal, ehe ich antwortete.

»Ich kann Euch jegliche Informationen geben, die ich weiß, Mylord. Aber selbst ich habe bei Weitem nicht alles darüber herausgefunden.«

»Hast du denn keine Verwandtschaft, die dir davon erzählen könnte?«

Ich versteifte mich bei seinen Worten und senkte den Blick. Nein, die ich hatte ich nicht. Aber welche Antwort ich auch geben würde, sie würde nur noch zu mehr Fragen bezüglich meiner Vergangenheit führen. Dieses Risiko war ich nicht bereit, einzugehen. »Nova ist alles an Familie, was ich habe«, sagte ich deshalb mit fester Stimme und sah wieder den High Lord an. Ich wollte so wenig mitleiderregend wie möglich wirken. Für das Versagen meiner Familie brauchte ich kein Mitleid. »Sie und ihr Ehemann, Edrin. Sie sind beide unter General Cassian angestellt und befinden sich momentan in den illyrianischen Heerlagen.«

Rhys nickte zur Bestätigung und hob langsam den Kopf. »Woher hast du dann die Informationen?«

»Aus meinen eigenen Recherchen im Archiv«, sagte ich und lächelte leicht. »Dank Eurer Großzügigkeit, mir dort einen Arbeitsplatz zu verschaffen.« Auch Rhysand lächelte und seine Augen wurden ein wenig weicher. Vielleicht war er doch kein so furchteinflößender Fae, wie ich annahm.

Azriel verlagerte das Gewicht auf seinem Stuhl und zog so meinen Blick auf sich. Zu meiner Überraschung erhob er das Wort. »Melany hat rausgefunden, dass ihre Magie das genaue Gegenteil zu meinen Schatten darstellt.« Meine Augenbrauen schossen verwundert in die Höhe. Seine Stimme klang so gar nicht verängstigt oder entsetzt. Ich konnte mich irren, aber sie klang sogar stolz. Wie als wäre er beeindruckt davon, dass ich diese Information herausgefunden hatte. Seine Augen blitzten hell und ich lächelte leicht. Dieser Blick beruhigte mich nicht nur angesichts der Fragerei seitens Rhysand sondern machte mich auch glücklich. Die Befürchtungen über seine Abneigung mir und meiner Magie gegenüber schienen unbegründet gewesen zu sein. Ich konnte mich irren, diese Möglichkeit gab es. Aber irgendwas in mir wollte daran glauben, dass ich das Gespräch von gestern Nacht falsch verstanden hatte.

»Hast du das durch die Dokumente im Archiv rausgefunden?«, fragte Rhysand. Ich sah wieder zu ihm, musste über seine Frage aber kurz nachdenken.

»Nicht direkt«, sagte ich zögernd. »Ich habe einige Dokumente mit Hinweisen darauf gefunden, aber die Erkenntnis kam mir, als ich auf Azriel traf.« Der Illyrianer neben Rhysand bewegte sich wieder auf seinem Stuhl, doch ich ließ meinen Blick noch immer auf dem High Lord ruhen.

»Würdest du mehr darüber herausfinden wollen?« Ich legte bei der Frage die Stirn in Falten, doch Rhysand wartete bloß geduldig auf eine Antwort.

»Ja«, sagte ich schließlich. »Ich versuche ununterbrochen seit Jahrzehnten mehr darüber herauszufinden.«

»Ich wäre dir gerne dabei behilflich«, sagte Rhysand.

»Was?«, stieß Azriel leise hervor. Seine plötzliche Verwunderung, ließ auch meine Verwirrung größer werden. Der High Lord wollte mir helfen?

»Wieso?«, fragte ich, ergänzte dann aber respektvoll ein "Mylord". Ich wollte keineswegs unhöflich klingen. Ich war bloß neugierig und verwundert über das Angebot.

»Weil ich denke, dass diese Magie nicht ganz normal ist«, sagte Rhysand und seufzte laut auf während er sich in seinem Stuhl etwas aufrichtete. »Und dennoch könnten sie von großer Hilfe sein.«

»Hilfe für wen?«, fragte ich, noch immer verwirrt.

»Für unseren Hof.« Selbst Feyre wandte den Blick zu ihrem Seelengefährten, als er die Worte aussprach. Doch er war noch nicht fertig. »Wie du weißt haben Feyre und ihre Schwestern durch ihre Verwandlung zur Fae Fähigkeiten bekommen, die über die normalen Fähigkeiten eines Faes hinausgehen. Ich frage mich, ob es bei deiner Magie dasselbe ist.«

»Aber ich wurde so geboren«, sagte ich. »Ich habe keine Verwandlung durchgemacht.«

»Auf der Hand liegt aber, dass du solche Fähigkeiten besitzt. Und ich würde dir gerne dabei helfen, mehr über sie herauszufinden. Dafür würde ich dich als meine Ratsmitarbeiterin einstellen.« Rhysands Worte trafen mich unvorbereitet. Mit hochgezogenen Augenbrauen schloss ich die Augen und überdachte das, was er gerade gesagt hatte. Ich, eine Ratsmitarbeiterin?

Nach einer kurzen Pause, in der ich unschlüssig zwischen Rhysand, Feyre und Azriel hin und hersah, erhob die High Lady das Wort. Ihre Worte waren sanft, genau wie das Lächeln auf ihren Lippen. »Du musst das Angebot natürlich nicht annehmen«, sagte sie, »doch wir denken, dass das für beide Seiten von Gewinn wäre.«

Angesichts der Tatsache, dass sie vorhin selber noch verwirrt von Rhysands Angebot war, sprach sie nun ziemlich überzeugt von der Idee. Es gab das Gerücht, dass sich High Lady und High Lord des Nachthofs mental miteinander verständigten. Doch in genau diesem Moment war ich mir fast sicher, dass ich Zeugin eines solchen telepathischen Austauschs geworden war.

In diesem Moment brannte mir jedoch eine einzige, wichtige Frage auf der Zunge. Eine Frage, die bei seinem Angebot als erstes durch meinen Kopf geechot war. Ich zog die Hände vom Tisch auf meinen Schoß und versuchte das Zittern darin zu verstecken. Und dann war da wieder ein Ziehen in meiner Brust, bei der mein Blick automatisch zu Azriel huschte. Er sah mich direkt an und das Gold in seinen Augen beruhigte mich fast schon. Ganz gleich was gestern passiert war, diese Augen würden mich vermutlich bis ans Ende meiner Tage trösten können.

Dann stellte ich meine Frage. »Würde ich in irgendeiner Weise mit der Höhlenstadt zu tun haben?« Meine Stimme war fester, als ich es erwartet hatte. Doch ich spürte das Zittern in meiner Unterlippe, die den anderen beim Sprechen vermutlich aufgefallen war. Doch es war mir egal.

Rhysand legte den Kopf schräg und sah mich einen Moment lang nur an. Es war, wie als würde eine Ewigkeit vergehen. Schon wieder ein Ziehen in meiner Brust. Ein so sanftes, wohliges Ziehen, das das Zittern in meinen Gliedmaßen weniger wurde. »Nein«, sagte Rhysand schließlich. »Nicht, wenn du es nicht willst.« Ich spürte, wie sich meine Schultermuskeln entspannten.

Mit einem etwas stetigeren Atmen und noch immer schnellen Puls nickte ich schließlich. »Gut, ich nehme Euer Angebot an.« Weil, wenn nicht der High Lord bei meinen Recherchen behilflich sein würde, wer dann? Ich konnte jegliche Hilfe gebrauchen.

Rhysand und Feyre lächelten über meine Worte. »Die Arbeit im Archiv darfst du gerne fortführen, vor Allem weil ich denke, dass deine Fähigkeit zur Unvergesslichkeit auch in deinen Aufgaben als Ratsmitglied sehr von Vorteil sein wird«, sagte Rhysand. Ich nickte dankend. Er fuhr fort: »Was den Rest deiner Beschäftigung angeht, bereden wir, wenn wir mehr über deine Fähigkeiten herausfinden.«

Erneut nickte ich. »Ich danke Euch.«

Rhysand erhob sich lächelnd von seinem Stuhl und hielt Feyre die Hand hin. Sie ergriff sie und stand ebenfalls auf. Als sie einige Schritte Richtung Tür gegangen waren, blieb Feyre abrupt stehen und drehte sich zu mir. »Ach übrigens: Ich soll dir was von Nesta ausrichten.« Ich hielt in meiner Bewegung inne und sah Feyre mit zusammengepressten Lippen an. Das konnte nur eins bedeuten... »Sie sagt«, fuhr Feyre fort, »dass eure Abmachung noch immer gilt, weil sie sonst Nova zurückholen lässt."

»Bist du dir sicher, dass du sie nicht vielleicht falsch verstanden hast?«, fragte ich und zog eine Grimasse. Feyre lachte nur leise und schüttelte den Kopf.

»Nein ganz sicher«, sagte sie noch immer lachend. »Ich weiß nicht, was genau sie damit gemeint hat, aber sie hat ausdrücklich gesagt, dass du hier bleiben sollst bis ans Ende der Woche. Sie kommt ohnehin bald wieder nach ihrer... Vereinigung mit Cassian.« Mor gluckste hinter mir und selbst Azriel biss sich grinsend auf die Lippe. »Aber du bist in diesem Haus nach wie vor willkommen, so lange du - oder auch Nesta, es wollen.«

Ich seufzte laut auf, nickte Feyre dann aber doch mit einem halbherzigen Lächeln zu. Sie griff wieder nach Rhysands Hand und verschwand mit ihm durch die Tür. Ein leichter Windhauch, der an meinen Röcken raschelte, bedeutete wohl, dass sie den Wind geteilt hatten.

Langsam drehte ich mich auf meinem Stuhl zurück zum Tisch und sah auf meinen Teller. Ich hatte nichts von dem Gebäck angerührt. Und vermutlich war auch der Tee bereits kalt.

»Dann heiße ich dich offiziell in unseren Reihen willkommen, meine Liebe«, sagte Mor und legte im Aufstehen die Hände auf meine Schultern. Sie drückte sie sanft und ich lächelte über die Schulter zu ihr auf. »Esst ihr ruhig noch weiter, ich lege mich noch einmal hin.« Und noch bevor ich protestieren konnte, hatte Mor den Wind geteilt und nur den Geruch nach Zitrusfrüchten und Rosen zurückgelassen.

Ich griff nach dem Gebäck auf meinem Teller, führte es aber nicht zu meinem Mund. Denn jetzt saß ich hier alleine mit Azriel in der Küche. Dem Gefühl in meiner Brust nach zu urteilen, lagen seine Augen auch auf mir. Und ich wäre verdammt, sollte ich den Kopf heben. Deswegen saßen wir nur so in der Stille, während ich nervös mit der Teigtasche spielte. Toll, diese Situation war einfach nur großartig. Ich unterdrückte den Drang, von meinem Stuhl zu springen und aus dem Haus zu rennen.

»Arbeitest du heute im Archiv?«, fragte Azriel plötzlich. Ich nickte nur knapp. »Wann musst du dort sein?«

»Erst in zwei Stunden. Ich arbeite vormittags nicht.« Ich umfasste den Griff meiner Teetasse und führte sie zu meinem Mund. Noch immer sah ich nicht zu Azriel.

»Melany, das wegen gestern Nacht«, setzte er an. Beim Versuch, ihn davon abzuhalten weiterzureden verschluckte ich mich an meinem Tee. Hustend setzte ich die Tasse zurück auf den Unterteller und hielt die andere Hand vor den Mund.

Ich wagte einen kurzen Blick zu Azriel, der nur verwundert die Augenbrauen hochgezogen hatte. Und, war das ein Lächeln auf den Lippen? Fand er das etwa witzig?

»Sei nicht so offensichtlich amüsiert!«, beschwerte ich mich unter Husten, bezweckte dadurch aber nur, dass Azriels Grinsen größer wurde.

Er stand von seinem Platz auf und füllte ein leeres Glas mit Wasser, dass er mir dann reichte.

Ich griff nach dem Glas und nahm einen Schluck in einer Hustpause. Doch er bewegte sich nicht von der Stelle. Nein, Azriel stand dicht neben mir und sah auf mich hinunter, die Flügel dicht an seinem Körper. Ich umfasste das kühle Glas noch fester und schluckte einige Male. Immerhin hatte der Husten aufgehört. »Danke«, sagte ich bloß und setzte das Glas neben meinem Teller ab.

»Ich möchte mich entschuldigen«, sagte Azriel so schnell, dass ich gar nicht dazwischen gehen konnte. Ich sah zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Gut, dann redeten wir jetzt also über gestern Nacht.

»Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, Azriel«, sagte ich. »Das ist die normale Reaktion auf meine Magie. Ich wäre einfältig gewesen, hätte ich etwas anderes erwartet.« Ich hatte etwas anderes erwartet. Ich war einfältig. Aber das musste ich ihm nicht auch noch direkt ins Gesicht sagen.

»Nein«, sagte Azriel. Irgendwas blitzte in seinen Augen auf. Und dann tat er noch etwas, was ich nicht erwartet hatte. Er kniete sich hin, sodass ich ihm auf Augenhöhe war. Dabei legten sich seine großen Flügel über den Boden. »Du bist nicht einfältig. Und du hättest jedes Recht dazu, von meiner Reaktion verletzt zu sein, wenn du es denn bist.«

»Du brauchst wirklich nicht-«, setzte ich erneut an, wurde jedoch von Azriel unterbrochen.

»Meine Reaktion galt nicht deiner Magie.« Meine Augen weiteten sich vor Überraschung, doch Azriel wirkte noch immer wie die Ruhe selbst. »Ich habe Angst um dich bekommen, als sich plötzlich meine Schatten beim Leuchten deiner Hände zurückgezogen haben.«

»Angst?«, fragte ich verwirrt.

»Ja. Weil es mich an etwas erinnert hat. Und der Gedanke, ich könnte dir Schaden zufügen, hat mich so reagieren lassen, wie ich eben reagiert habe.«

»Es wäre wahrscheinlicher, dass ich dich verletze, als umgekehrt.«

»Das bezweifle ich«, sagte Azriel und lächelte leicht. Mein Herz zog sich zusammen bei seinen Worten und eine wohlige Wärme umgab mich. Ich erwiderte sein Lächeln.

»Mach dir wegen gestern Nacht keine Sorgen«, sagte ich schließlich. Die Sanftheit meiner Stimme schien sogar mein eigenes aufgewühltes Herz zu beruhigen. »Ich fand es trotz allem sehr schön. Und ich meinte es auch ernst, als ich sagte, dass ich bei dir sein wollte. Trotz... allem.«

Ich wusste selbst nicht genau, was alles war, dennoch nickte Azriel. Wie als hätte er mich verstanden. Wie als wüsste er, was ich meinte, ohne dass ich es selbst wissen musste.

»Und ich meinte es ernst, als ich sagte, dass ich dich bei mir haben wollte«, sagte er leise. Seine raue Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. Ich schluckte fest, als sich ein scheues Lächeln auf meine Lippen stahl.

Azriels Blick huschte für den Bruchteil einer Sekunde zu meinen Lippen. Doch auch wenn seine Augen im nächsten Moment wieder die meinen fixierten, spürte ich die Hitze in mein Gesicht steigen. Vermutlich würde Azriel die Scham nun sehen. Und obwohl ich mir fast sicher war, dass meine Wangen von einem tiefen Rot überzogen waren, ließ Azriel sich nicht anmerken, dass er es in irgendeiner Weise mitbekam. Abgesehen von seinem schnellen Herzschlag, dass in demselben Takt wie meines zu schlagen schien, hörte ich rein gar nichts.

»Mel, ich muss dir etwas sagen«, raunte mir Azriel mit belegter Stimme zu. Schon wieder überzog mich ein Gänsehaut. Unfähig, etwas zu sagen, nickte ich bloß kaum merklich.

»Als ich verletzt wurde, hat sich mir etwas offenbart«, fuhr er fort. Seine Augen schienen noch intensiver die meine zu fixieren. Ich wagte es nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Das Blut rauschte in meinen Ohren und ich krallte meine Hände in mein Kleid. Was auch immer jetzt kommen würde, ich wusste nicht, ob es mir gefallen würde.

Langsam senkte er den Blick während er die Hand hob und sie auf eines meiner Hände in meinem Schoß legte. Ich spürte, wie mein Herz stolperte. Wie sich wieder die Gedanken in meinem Kopf überschlugen. Doch ich zog meine Hand nicht weg, stattdessen lockerte ich den Griff um mein Kleid und erlaubte mir selbst, seine Finger zu umfassen. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, woher die Narben an seinen Händen kamen. Wer ihn so sehr verletzt hatte. Denn wer konnte solchen Händen, die liebevoll über die Haut eines anderen streichen konnten, sowas grausames antun? Ich gestattete mir, seine Hand noch etwas fester zu umfassen.

»Spürst du das Ziehen?«, fragte er leise. Blinzelnd sah ich von unseren Händen zu seinem Gesicht, das noch immer gesenkt war. Als ich nicht antwortete, hob er den Kopf und sah mir wieder direkt in die Augen. Das flüssige Gold schien mich gefangen zu nehmen. »Das Ziehen in deinem Herzen?« Wie auf Kommando spürte ich wieder ein Ziehen in meiner Brust, das, was ich schon den ganzen Tag gespürt hatte. Und gestern. Ich nickte kaum merklich.

»Das liegt an...«, setzte er an, schloss aber wieder kurz den Mund. Ich sah gebannt in seine Augen. Das Rauschen in meinen Ohren noch lauter, das Ziehen in meiner Brust noch stärker. Und dann sprach er sie aus; die Worte.

»An unserer Seelenverbindung.«

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