Auch hätte ihr auffallen müssen, dass sie den silbernen Pick-up noch nie im Ort, geschweige denn auf dem Parkplatz der Schule gesehen hatte.

Aber das war nicht was Ambers Aufmerksamkeit weckte. Ihre Aufmerksamkeit galt dem unbekannten Gesicht des Fahrers.

Sie hatte am Vormittag durch Gespräche ihrer Mitschüler erfahren, dass die Schule einen neuen Schüler hatte. Doch gesehen hatte sie ihn den ganzen Tag noch nicht.

Und nun saß er nur wenige Meter entfernt von ihr mit einem angespannten Gesichtsausdruck in seinem Auto. Seine Mimik war angestrengt, seine dunklen Augenbrauen waren zusammengezogen, auf der Stirn entstanden dadurch tiefe Falten und sein Mund war eine gerade Linie.

Vielleicht war die Frage nach dem Grund seiner Angespanntheit das, was Ambers Aufmerksamkeit weckte.

Wahrscheinlicher war es allerdings, dass Amber wegen seines Aussehens vergaß wegzuschauen. Er war attraktiv. Seine Arme waren durch den festen Griff am Lenkrad angespannt, wodurch sie noch muskulöser schienen. Das schwarze T-Shirt spannte sich über seinen Oberkörper. Seine dunklen Augen waren auf die Straße vor ihm gerichtet.

Sie war sich sicher, dass er nicht nur aus dem einfachen Grund, dass er neu zugezogen war, sondern auch wegen seiner Hautfarbe auffallen würde. Sie konnte an einer Hand die Anzahl der dunkelhäutigen Schüler ihrer Highschool zählen.

Erst als sein Auto an ihr vorbeifuhr und den Parkplatz verließ, bemerkte sie, dass sie die letzten Sekunden regungslos auf dem Parkplatz stand und den neuen Schüler anstarrte.

Das Gefühl von Peinlichkeit machte sich in ihr breit während sie schnell die paar Schritte ging, die sie noch bis zu ihrem Auto trennten. Erleichtert, dass weder der Neue, noch andere Schüler sie gesehen hatten, entriegelte sie die Tür ihres Kleinwagens und warf ihren Rucksack lieblos auf den Beifahrersitz.

Amber musste nicht lange fahren, bevor sie die Einfahrt ihres Zuhauses erreichte. Zum Glück kannte sie den Weg von der Schule nach Hause so perfekt wie kein anderer, denn während der Fahrt bemerkte sie immer wieder, wie ihre Gedanken abschweiften.

Normalerweise hätte sie nach dem Schultag schnell nach Hause gemusst, kurz was gegessen und sich dann schon wieder voller Hektik auf den Weg zum Training gemacht.

Doch vor ein paar Wochen hat sie die Entscheidung getroffen das Turnen aufzugeben. Diese Entscheidung traf gefühlt ihre Mutter härter als Amber selbst. Es war nicht so, dass Amber das Turnen hasste. Im Gegenteil, der Sport machte ihr Spaß und die Turngemeinschaft war eine tolle Welt, aber einfach nicht ihre.

Jahrerlanger Druck von Trainern, Juroren und ihrer größten Kritikerin wurden ihr zu viel, sodass sie während der Sommerferien unerwartet das Training beendete. Für Amber war es weniger überraschend. Sie wusste schon lange, dass sie so nicht glücklich werden konnte. Doch ihre Mutter war über den Abbruch schockiert und investierte nun noch viel mehr Zeit in die Turnkarriere der jüngeren Tochter, Leslie.

Amber war das recht. Jedenfalls hatte Leslie unheimlich viel Spaß am Turnen und war offensichtlich ehrgeiziger als Amber. Ein weiteres Plus war, dass ihre Mutter nun ihren eigenen Ehrgeiz voll und ganz Leslie widmen konnte und Amber somit endlich Zeit zum Durchatmen hatte.

Doch heute wurde ihr bewusst, wie viel Zeit sie tatsächlich zum Durchatmen hatte. Nun saß sie ganz alleine in ihrem Zimmer und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sie wusste nicht wohin mit sich selbst.

***

Zur Abwechslung war Owens Mutter zuhause, als er die Haustür aufschloss. Ihre Anwesenheit sollte allerdings nicht von langer Dauer sein, denn seine Mutter lief hektisch herum, als sie ihre Sachen für ihre Schicht im Krankenhaus zusammensuchte.

„Owen, im Kühlschrank steht dein Abendessen, ich komme erst heute Nacht wieder", hörte er seine Mutter aus dem Wohnzimmer sagen, während er die Haustür hinter sich schloss und seine Tasche abstellte.

„Ich dachte du hattest heute die Frühschicht?", fragte er als er in das offene Wohnzimmer lief.

Seine Mutter lief immer noch von einer Umzugskiste zur anderen.

„Wo sind denn nur die Papiere", murmelte sie währenddessen vor sich her.

„Mom?" Das weckte endlich ihr Interesse. Verwirrt sah sie zu ihm hoch. „Wieso musst du wieder arbeiten?", fragte er erneut. Eigentlich hatte er sich wenigstens eine gute Sache vom Umzug erhofft – dass seine Mutter endlich mehr Zeit zuhause und weniger Zeit im Krankenhaus verbringen musste.

Sie kramte in einer der kleineren Umzugskisten herum, bis sie endlich einen kleinen Stapel Papiere hervorzog und sie triumphierend vor sich hielt.

Ihre Schultern spannten sich sichtlich an, als sie wieder zu Owen sah. „Ich springe für jemanden ein, schließlich will ich an meinen ersten Tagen einen guten Eindruck machen." Sie lief an ihm vorbei und steckte die Papiere in ihre Handtasche. Eine Hand kramte in der Seitentasche ihrer Uniform nach dem Handy, das sie auch in ihre Handtasche fallen ließ.

„Machst du nicht auch einen guten Eindruck, wenn du einfach deine Arbeit gut machst", fragte er genervt. Er wollte nicht alleine sein, vor allem nicht heute.

„Owen." Seine Mutter atmete tief durch, als sie ihm seine Enttäuschung deutlich ansehen konnte. „Du weißt, dass ich den Job angenommen habe, weil sie mir weniger Überstunden angeboten haben. Aber jetzt muss ich mich einfach beliebt machen, damit ich auch mal frei nehmen kann, wenn du ein Spiel hast", sagte sie. Der Stolz in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Owen hat während seiner Footballkarriere seine Mutter selten auf der Tribüne gesehen, doch wenn sie da war wusste jeder, dass Owen ihr Sohn ist.

Sie ging einen Schritt auf ihn zu, küsste ihn kurz auf die Stirn und schlang ihre Handtasche über die Schulter. „Ich muss wirklich los, sonst komme ich noch zu spät." Hektisch überprüfte sie nochmal ob sie alles hatte, während sie durch die Haustür ging und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Owen legte sich auf die Couch, die sporadisch im Wohnzimmer zwischen den braunen Umzugskisten stand. Das alte Leder klebte auf seiner Haut, als er versuchte sich gemütlicher hinzulegen.

Er wusste nicht, wie er sein schlechtes Gewissen stillen konnte. Seine Mom arbeitete viel zu viele Stunden im Krankenhaus und trotzdem konnten sie sich nicht mal eine Couch leisten, die nicht an allen Stellen zerfiel.

Er konnte ihr nicht noch mehr Sorgen aufdrücken. Dass der Coach ihn nicht trainieren lassen wollte und so seine Chance auf ein Stipendium gleich null waren, musste sie noch nicht wissen. Das College könnte sie ihm niemals ohne ein Stipendium ermöglichen, schließlich kamen sie ja so schon kaum über die Runden.

Owen rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht, sein Kopf fing an zu schmerzen und seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er wusste nicht wohin mit sich selbst.


***

A/N: Wie hat euch der Anfang gefallen? Schreibt es mir in den Kommentaren!

Lasst doch ein Sternchen da, falls euch das erste Kapitel gefallen hat! Würde mich total darüber freuen :)

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