Kapitel 26

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Heute war der Tag endlich gekommen. Owen durfte sein erstes Spiel im Trikot der Huntsville High bestreiten und dabei auch noch versuchen Colleges von sich zu überzeugen.

Amber war nach der Schule nach Hause gefahren, um sich für das Spiel umzuziehen. Das rote Sweatshirt mit einem großen weißen H lag schon auf ihrem Bett bereit, als sie ihr Zimmer betrat. Sie wollte so schnell wie möglich wieder in ihr Auto steigen und sich auf den Weg ins Stadion zu machen, um den besten Platz auf der Tribüne zu ergattern. Dass sie deswegen mehrere Stunden dort sitzen müsste und auch das Aufwärmen der Mannschaften sehen würde, war ihr recht. Schließlich war ihr nichts wichtiger, als ihre neuen Freunde und Owen zu unterstützen.

Ein Klopfen war an ihrer Zimmertür zu hören, doch bevor Amber etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür schon und ihre Mutter stand in Ambers Zimmer. Ihre blonden Haare waren zu einem Dutt in ihrem Nacken gebunden. Große weiße Perlen lagen um ihren Hals.

„Amber, wir fahren in zehn Minuten los nach Knoxville. Bist du bitte bis dahin fertig?", sagte die Mutter und wollte schon wieder das Zimmer verlassen.

„Was?", entfuhr es Amber, das Sweatshirt fiel ihr fast aus der Hand.

Ihre Mutter drehte sich um und sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Dieses Wochenende ist das jährliche Turnier in Knoxville. Du weißt das ganz genau und ich möchte, dass du heute mitkommst." Ihre Stimme war kalt, völlig leer von Emotionen.

„Mom, ich turne doch gar nicht."

„Wir sind heute ja auch nur Zuschauer. Leslie turnt auch erst morgen."

Ambers Mund öffnete sich immer wieder, um sich kurz darauf wieder zu schließen. „Wieso gehen wir dann...", stammelte sie.

Ihre Mutter atmete tief durch. „Amber, wir müssen gleich los, wir haben eine gute Stunde Fahrt vor uns. Mach dich bitte fertig."

„Ich kann heute nicht", sagte Amber und wich den Blicken ihrer Mutter nicht aus.

„Ich habe keine Lust da weiter drüber zu diskutieren. Sei in zehn Minuten unten", sagte die Mutter und verließ das Zimmer.

Amber stand einige Sekunden regungslos in ihrem Zimmer und starrte zur Tür, durch die ihre Mutter wieder verschwunden war. Das durfte doch nicht wahr sein. An dem Tag, an dem sie unbedingt im Stadion ihrer Highschool sein wollte, musste sie mit ihrer Mutter und Schwester über eine Stunde nach Knoxville fahren um bei einem Turnier zuzuschauen, an dem sie nicht einmal teilnahm. Während Owen eines seiner wichtigsten Spiele bestreiten würde, konnte sie ihn nicht unterstützen. Die Welt brach für sie zusammen, Tränen lief ihr übers Gesicht, als sie sich auf ihr Bett setzte. Sie wusste nicht weiter. Wusste nicht, was sie nun tun sollte.

Einige Minuten saß Amber einfach nur da, das Gesicht von Tränen bedeckt. Das kann doch alles nicht wahr sein, dachte sie sich. Es überraschte sie nicht, dass ihre Mutter sie dazu zwang mit nach Knoxville zu fahren und dafür alles andere zu streichen, egal wie wichtig es Amber war. Doch trotzdem konnte Amber ihre Verletzung nicht verstecken.

Sie streifte sich dennoch das rote Sweatshirt über den Kopf, wich ihre Tränen aus dem Gesicht und setzte sich zur Mutter und Schwester ins Auto. Die ganze Fahrt über beobachtete sie die Bäume, die langsam ihre Farbe änderten. In Gedanken war sie nur bei Owen. Sie wusste nicht, ob sie ihm schreiben sollte, dass sie heute nicht da sein würde, entschied sich aber nach einem Blick auf die Uhr dagegen. Owen würde sich wahrscheinlich in dem Moment in sein Auto setzten und voller Adrenalin ins Stadion fahren. Sie wollte ihn nicht von seinem eigentlichen Ziel ablenken. Sie wollte, dass er mit einem freien Kopf spielen konnte. Nichts wäre schlimmer als zu wissen, dass er ihretwegen abgelenkt sein könnte und seine große Chance die Scouts von sich zu überzeugen vermasseln würde.

Also legte sie ihren Kopf gegen die Autoscheibe und schloss die Augen. Im Radio lief irgendein Country Song über zwei Liebende, die sich nicht sehen konnten, während ihre Mutter und Leslie aufgeregt über die Konkurrenz des Turniers plauderten. Amber kniff ihre Augen ein bisschen mehr zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie ahnte, dass ihre Mutter sie mitnahm, um sie davon zu überzeugen diese Saison doch noch zu turnen. Und Amber wusste auch, dass sie heute ihre alte Trainerin und ehemalige Teamkollegen sehen würde. Nichts zerriss ihr mehr das Herz als zu wissen, dass sie ihnen ein Lächeln schenken musste, obwohl sie eigentlich in Huntsville sein wollte um Owen zuzulächeln, während er auf dem Rasen sein Bestes gab.

*

„Ach, die wunderschöne Familie Young! Wie schön euch zu sehen!", rief eine schrille Frauenstimme, als Amber sich neben ihrer Schwester auf die Tribüne setzte. In der Turnhalle war es kalt, das kühle Licht ließ Amber die Augen zusammenkneifen.

„Carol! Wir haben schon überall nach dir Ausschau gehalten", sagte Ambers Mutter, als die Frau mit den langen schwarzen Haaren und blutroten Lippen auf die drei zulief.

„Wir hatten Probleme mit der Startaufstellung, aber das hat sich zum Glück alles geregelt", die Frau winkte kurz mit ihrer Hand ab. „Und Leslie, bist du schon nervös wegen morgen?", fragte sie Ambers kleine Schwester.

Leslie setzte sich aufrechter hin, als sie ihre Trainerin anlächelte. „Nur ein bisschen. Ich glaube ich habe echt eine gute Chance!"

„Ich glaube auch, du schaffst das schon." Ihr Blick wanderte von Leslie zu Amber. „Es ist so schön dich wieder zu sehen, Amber. Aber noch lieber würde ich dich natürlich da unten sehen", sagte Carol. Ihre Stimme war leise, das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.

Amber schluckte schwer. „Ich freue mich auch dich wieder zu sehen", versicherte sie ihrer ehemaligen Trainerin. Auf die Bemerkung, dass Amber heute hätte turnen sollen, ging sie nicht weiter ein.

„Clarice, lass uns doch später nochmal die Termine für morgen durchgehen, ich muss zu den anderen Mädels um ihnen nochmal Mut zuzusprechen", sagte Carol zur Mutter.

„Natürlich, lass dich von uns nicht weiter ablenken." Ambers Mutter winkte Carol kurz zu um ihr zu versichern, dass sie ruhig ihren Verpflichtungen wieder nachgehen konnte.

Amber schaue nervös zur Uhr. Wenn sie nach dem Turnier so schnell wie möglich nach Hause fahren würde und sofort in ihr Auto springen könnte, hatte sie noch die Chance die letzten Minuten des Footballspiels zu sehen.

„Carol meinte du hättest dieses Jahr ganz sicher den Titel holen können", hörte Amber ihre Mutter leise sagen. Sie tat so, als hätte sie die Bemerkung nicht gehört und schlang ihre Arme eng um ihren Körper, als die ersten Turnerinnen zu den Geräten liefen. Sie erkannte einige wieder, mit denen sie jahrelang in sämtlichen Turnhallen alles gegeben hatte. Doch alles zog an Amber nur wie ein Film vorbei. In ihren Gedanken war sie gar nicht in Knoxville, sondern in Huntsville, wo die Minuten zum wichtigen Spiel schon gezählt wurden.

Hail Mary | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt