Kapitel 35

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Fix You - Coldplay

Draußen musste ich einen Bogen um das Mittelstufengebäude machen, weil ich eine andere Tür genommen hatte als bei unserer Ankunft. Das Einkleiden am frühen Abend schien mir Tage entfernt. Als ich bei den Fahrradständern an der Turnhalle ankam, waren alle schon gefahren, aber ich hatte auch nicht wirklich vorgehabt, mit jemandem meine Unfähigkeit zu einer Beziehung zu diskutieren. 

Der kühle Fahrtwind half mir, wieder klarer im Kopf zu werden und ich konnte die Situation besser überblicken. Allerdings brannte er auch in den Augen und ließ meine Tränen noch schneller fließen. Ich kam kaum mit dem Blinzeln hinterher. Theo hatte also die letzten beiden Wochen sein doofes Handball mir vorgezogen, weil er keinen Stress mit Jörn wollte. Der war übrigens einer seiner Trainer. 

Die Tatsache, dass es stockfinster war, erleichterte den Heimweg auch nicht gerade. Da meine altersschwache Lampe in den endgültigen Ruhestand gegangen und bis jetzt keine neue an ihre Stelle getreten war, hielt ich mich an die Straßenlaternen. Wie in Coldplays Fix You beschrieben, ließ ich mir von ihnen den Weg nach Hause leuchten. Ich hätte jetzt auch jemanden gebrauchen können, der mich reparierte. 

Verheult, fix und fertig wie ich war, schaltete ich auf den letzten Metern schon mal in den Selbstmitleidsmodus. Der Plan war, in diesem Zustand mindestens die restliche Nacht und den Sonntag zu verbringen. Deshalb passte es mir auch überhaupt nicht in den Kram, als Frau Kloz zwischen den Autos hervorsprang, die auf unserer Straßenseite geparkt waren. 

"Was... machen Sie denn hier?", stieß ich hervor, nachdem ich tief eingeatmet hatte. Hatte ich die Frage nicht eben schon mal gestellt, nur mit einem Du statt dem Sie? 

"Sammy musste noch mal an die frische Luft. Wenn er sein Geschäft nicht vor dem Zubettgehen machen konnte, ist er immer so unruhig. Und ich auch", schnarrte die Alte. 

Ah, ja. Und warum musste sie dafür die Straßenseite wechseln? Na ist doch klar, beantwortete ich mir meine gedachte Frage selbst, damit er nicht vor ihrem Zaun in den Graben kackt. Dreh jetzt bloß nicht durch, ermahnte ich mich. 

"Um Viertel vor eins?", ließ ich sie an meinem Gedankengang teilhaben. 

"Und keine Minute früher. Sonst kommt der Schlafrhythmus ganz durcheinander", behauptete Frau Kloz. 

Meinte sie sich oder den Hund? Ich bezweifelte, dass Sammy freiwillig um diese Uhrzeit vor die Tür ging. 

"Und nebenbei kundschaften Sie mein Privatleben aus", murmelte ich und zuckte im nächsten Moment zusammen. Hatte Frau Kloz mich gehört? Ich wartete mit großen Augen ihre Reaktion ab. Die Tränen waren mittlerweile versiegt, vom Wind weggeweht. 

Aber die Alte war nach wie vor damit beschäftigt, einen geeigneten Platz für Sammys Stuhlgang zu finden. Mir wurde das Ganze zu blöd und ich dachte wieder an meine Pläne, mich in meinem Kissenberg zu vergraben. 

"Ich muss dann mal, Frau Kloz. Meine Kuscheltiere erwarten mich." Und zwölf Packungen Taschentücher, fügte ich in Gedanken hinzu. 

Ich schleppte mich den Weg zur Haustür hoch, steckte meinen Schlüssel ins Schloss und drehte. Da unser Schloss schon ein älteres Modell war aus mehreren Kolben bestand, die erstmal alle durch den Bart des Schlüssels zur Seite gedrängt werden mussten, hätte ich das vorsichtiger tun sollen. Der Gedanke kam mir aber erst vier Sekunden nachdem ein Knacken gefolgt von einem merkwürdig schleifenden Geräusch die nächtliche Stille durchbrochen hatte. 

"Oh Gott, lass sie weiter schnarchen", betete ich zur Decke. Ich hätte zwar ein bisschen Seelenklempnerei und heißen Trostkakao vertragen können, dann wäre ich aber auch von Mamas "Ach mein armes Häschen"-Blick nicht verschont geblieben. Und darauf konnte ich gerade sehr gut verzichten. Sie meinte es sicher nur gut, aber bei ihrer jeden Stolz zerstörenden Mitleidstour fühlte ich mich jedes Mal wie eine Sechsjährige, die einfach nicht ernstgenommen wurde. 

Ich wollte stattdessen lieber etwas Dramatisches tun. Etwas, das meiner Situation angemessen war. Ein rasender Eifersuchtsanfall, in dessen Verlauf ich die Kapuzen von Theos Shirtjacken abschneiden und seinen Hinterreifen klauen würde. Das wäre passend gewesen. Aber genau das war der Punkt: ich verspürte beißende Eifersucht - aber worauf denn? Diese Jana, die Theo offenbar kaum eines Blickes gewürdigt hatte, kam ja wohl eher nicht infrage. 

Unschlüssig stand ich in der dunklen Küche und ließ meinen Blick umherwandern. Am Kühlschrank blieb er kleben. Sollte ich mir mit einer Familienpackung Zitroneneis die Kante geben? Nein, irgendwie zu Klischee. Ich könnte mich auch in voller Montur ins Bett legen und nie wieder aufstehen. Die Bodypainting-Farbe würde ich heute eh nicht mehr abgeschrubbt bekommen. Darüber dachte ich nach, während ich eine feine goldene Spur auf dem Treppengeländer hinterließ. Offenbar hatte die Haltbarkeit der Farbe auch ihre Grenzen. 

Im ersten Stock machte ich dann doch Licht an, um nicht über Mamas Hosenhaufen im Flur zu stolpern. Sie hatte scheinbar versucht, die einzig wahre unter ihren Business-Stoffhosen zu finden. Wenn eine den Test nicht bestanden hatte, war sie einfach an Ort und Stelle liegen gelassen worden. Der Anblick erinnerte mich ein bisschen daran, was mit meinen Gefühlen, Hoffnungen und meinem erst einmal geküssten Mund passiert war. Theo hatte sie links liegen gelassen auf seinem Weg an die Spitze der Regionalliga oder was auch immer. 

Den Kopf voll überdrehter Gedanken dieser Art öffnete ich eines der beiden bodentiefen Fenster in meinem Zimmer und blickte in den vom Mondlicht beschienenen Garten. Keine Sorge, vor dem Fenster befand sich ein äußerst stabiles Metallgitter und ich hatte bestimmt nicht vor, runter zu springen. Dafür war die ganze Situation dann doch zu unbedeutend in Hinblick auf das, was mich in den nächsten siebzig Jahren noch erwartete. Und ich hatte nicht die Kraft, über das hüfthohe Gitter zu klettern. Aber die Enttäuschung tat so verdammt weh. 

So an den Fensterrahmen gelehnt stand ich eine ganze Weile da, bis mir auf einmal jemand seine Arme um die Schultern legte. Oder eher ihre Arme (habe ich schon mal gesagt, wie bescheuert ich es finde, dass der "Jemand" im Deutschen männlich ist? Was das betrifft ist unsere Sprache bestimmt kein Einzelfall, aber im Englischen beispielsweise kann man zumindest noch they benutzen, um es neutral zu halten). Ich drehte mich um und Mama zog mich in eine ihrer Bärenmutter-Umarmungen. 

"Es wird kalt", flüsterte sie, schloss das Fenster und führte mich zum Bett. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter und sie streichelte meine zersausten Haare, während ich ihr belanglose Einzelheiten, aber nicht vom eigentlichen Tiefpunkt des Abends erzählte. 

Aber sie schien auch so zu verstehen, dass die hartnäckige Bodypainting-Farbe nicht mein größtes Problem war. Obwohl ich gar nicht über Theos Lügen (wenn man das denn so nennen konnte) redete, half es mir, so neben meiner Mutter zu sitzen und in aller Ruhe die Lagen meines geliehenen Kleides zu zählen. Ich beruhigte mich so weit, dass meine Augenlider zufielen und es im nächsten Moment dunkel um mich herum wurde. Wow, ich hatte mich also selbst in den Schlaf geredet. Sehr dramatisch. Und ziemlich doof von mir, weil ich dadurch tatsächlich gold glitzernd an der Matratze horchte.

Wenn Regen fälltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt