✨8 - Samstag✨

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Judys Sicht
Ich gehe mit Marilyn die Treppen zur Mädchenetage hinauf. »Ich muss noch ein Referat vorbereiten. Wenn du keine Lust darauf hast, dann kannst du ruhig etwas Anderes machen...«, sie zieht eine Grimasse, sie hasst Referate. »Schon okay, ich komme trotzdem mit. Ein bisschen kann ich dir ja vielleicht helfen.« Sie nickt lächelnd. »Aber du darfst mich nicht zu sehr ablenken, sonst schaff ich das heute niemals und der Vortrag muss bis morgen fertig sein!«, jammert sie. »Würde ich doch nie. Ich hole nur kurz die Durftkerze, die wir ausprobieren wollten, weißt du noch?«, grinse ich. Sie stimmt mir begeistert zu, sie liebt nämlich Duftkerzen. Während ich noch einmal in mein Zimmer verschwinde, geht sie schonmal vor in ihres. Ich husche zum Regal neben meinem Schrank, um mir die kleine Duftkerze zu schnappen, die wir schon seit Tagen ausprobieren wollen, als mein Blick auf etwas Ungewöhnliches fällt. Ich gehe zum Fenster und kneife die Augen verwundert zusammen. Draußen auf dem Hof harkt ein Typ das Laub von der großen Eiche zusammen. Ich habe ihn hier noch nie gesehen, ist das ein neuer Betreuer? Nein, dafür ist er doch noch zu jung, ich schätze ihn auf Sechzehn oder Siebzehn, also vielleicht so alt wie ich. Ein neuer Bewohner? Aber wir sind doch nicht fürs Laubharken zuständig! Sehr kurios.

Ich wende den Blick ab, ich habe jetzt keine Zeit mir darüber den Kopf zu zerbrechen, ich will jetzt zu Marilyn und unbedingt diese neue Duftkerze mit ihr testen! Kurze Zeit später öffnet mir meine Freundin die Tür. Wie immer riecht es in ihrem Zimmer schon nach Kerzenwachs und Honig. Ihr Laptop ist bereits hochgefahren und summt leise vor sich hin. Sie setzt sich direkt wieder daran und tippt eifrig in die Tastatur. Bevor ich mich wie gewohnt auf ihren Sessel dazusetze, trete ich noch einmal unauffällig an ihr Fenster heran, nur um sicherzugehen, dass ich mich eben wirklich nicht getäuscht habe. Aber der Typ ist noch da, harkt immer noch Laub und sieht nicht gerade begeistert aus. »Hm...«, murmle ich, nicht weniger verwundert als zuvor, setze mich in den Sessel und konzentriere mich wieder auf Marilyn, den Referat und die Kerze. Dass die Streichhölzer in der obersten Schublade des Schränkchen sind, das neben dem Sessel steht, weiß ich natürlich. Ich hole sie heraus und mit einem Rrrrtsch! Entfache ich eine kleine Streichholzflamme. Ich entzünde den Kerzendocht und halte das Glas mit der brennenden Kerze darin in meinen Händen, so als ob dieses winzige Flämmchen mich wärmen könnte. Es vergehen einige Minuten, die ich mit geschlossenen Augen genieße. Ich höre zu, wie Marilynn in die Tastatur ihres Laptops tippt und hin und wieder seufzt, während mir nach und nach der Duft von Kirschblüten und Sandelholz in die Nase steigt. Auch Marilyn schnuppert: »Mhm! Die ist gut!« Ich stimme ihr zu, schließe erneut die Augen und sauge den Duft der Kerze noch tiefer ein.

Damians Sicht
Als ich die Milliarden Blätter irgendwann endlich zu einem großen Haufen zusammengeharkt habe, hole ich die große Schubkarre aus dem Schuppen raus und fahre die Blätter nach und nach — in bestimmt hundert Fahrten — zum Komposthaufen. Es dauert so lange, dass ich zwischendurch befürchte, dass ich vor der Dämmerung doch nicht mehr zuhause bin. Doch ich irre mich und nach etwa einer Stunde bin ich endlich fertig. Ich bringe den Rechen und die Schubkarre zurück an ihren Platz und schließe den Schuppen ab. Dann schaue ich in den blauen Planer. Für fünfzehn Uhr steht dort alle Flure im Hauptgebäude fegen. Alles klar. Es ist zwar schon nach fünfzehn Uhr, aber was soll's. Ich spaziere zum Hauptgebäude und will aufschließen, bis ich merke, dass die Tür bereits offen ist. Beschämt stecke ich den Schlüssel zurück in meine Tasche, nachdem ich gerade bestimmt drei Minuten lang versucht habe, die Tür aufzuschließen. Im Flur kommen mir zwei Jungen entgegen. Als sie an mir vorbeigehen höre ich, dass sie sich über irgendwas politisches unterhalten. Ich höre nicht weiter hin. Politik ist etwas, was mich absolut noch nie in meinem Leben interessiert hat. An der Abstellkammer im ersten Flur angekommen, hole ich einen großen Besen heraus und beginne direkt mit meiner Aufgabe. Das Erdgeschoss ist schneller gefegt als gedacht, da der Flur recht schlicht gebaut ist. Für die anderen Etagen, auf denen sich die Zimmer der Bewohner befinden, brauche ich länger. Die Flure sind verzweigter und es ist schwer zu fegen, ohne aus Versehen den Dreck unter die Zimmertüren zu schieben.

Einen Flur hätte ich sogar fast übersehen. Ich fege vor jeder Tür und in jeder Ecke, bemüht, den Besen nicht an die Türen zu schlagen, um niemanden zu stören. Den ganzen Dreck verfrachte ich mit einem Handfeger dann in die Mülleimer auf den Fluren. Das Wohnheim kommt mir irgendwie vor wie eine Jugendherberge. Gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich dachte, es ist eher so wie in einer Psychiatrie oder wie in einem gruseligen Kinderheim. Doch hier ist es ja fast wie auf Klassenfahrt! Vor einer der Zimmertüren halte ich mit einem Mal verdutzt inne, durch die Ritzen scheint ein seltsamer Geruch hindurch zu wabern. Ich schnuppere. Es riecht arg nach Duftkerze, igitt! Schnell weg hier! Schnell fege ich den Dreck zusammen und schütte ihn weg. Ich hasse jegliche Raumdüfte, Räucherstäbchen und diesen ganzen Mist, aber am aller ekligsten und abartigsten sind ja wohl Duftkerzen! Würgend schnappe ich mir mein Zeug und eile schnell in die nächste Etage. Hoffentlich ist das jetzt die Etage der Jungen. Es fahren nämlich wirklich nur Mädchen auf so schräges Zeug ab wie Duftkerzen! Zumindest habe ich noch nie einen Kerl getroffen, der sowas mag. Das wäre irgendwie... keine Ahnung. Seltsam eben. So wie Mädchen. Die sind einfach unberechenbar. Es sei denn, ich verführe sie mit meinem unwiderstehlichen Charme.

Hate Trans, Love TranceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt