Kapitel 6

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Ich knirschte mit den Zähnen und warf die Tastatur auf den Boden. „So ein Dreck.", schrie ich frustriert. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, Ashley erhob sich langsam aus ihrem Stuhl und kam zu mir herüber. Behutsam legte sie ihre Hände auf meine Schultern. „Komm, nimm mal deine Sachen, wir gehen an die frische Luft." „Dafür ist keine Zeit.", erwiderte ich schnippisch und sah sie verständnislos an. Meine Frau war seit über 80 Stunden unauffindbar in den Händen dieses Monsters und sie wollte an die frische Luft?! „Jetzt Ben. Ansonsten wirst du schneller nach Hause geschickt, als du gucken kannst." Es war eine klare Ansage, kein Vorschlag. Angepisst griff ich nach meiner Jacke und stampfte auf die Treppen zu. Es waren große, zügige Schritte, ohne Rücksicht auf ihre kurzen Beine. Doch diese Frau ließ sich nicht abhängen, die Kleine war immer auf Zack trotz ihren knappen 1,60 Meter Körpergröße. Sobald wir an der frischen Luft waren, lief sie zielstrebig an mir vorbei. Wortlos schritt sie durch die Stadt und verlangte stumm, dass ich ihr folgte.

Wir blieben in einem kleineren Park stehen und sie setzte sich ins Gras. Es war ein angenehmer Tag in New York und die Kinder kickten den Ball von einer Ecke der Grünfläche zur anderen. „Er war erst zwölf Jahre alt, weißt du." Sie sprach leise, während sie in die Ferne blickte, sodass ich mir erst nicht sicher war, ob sie wirklich mit mir redete.
„Wir waren damals fast jeden Tag in diesem Park. Meine Eltern hatten kaum Zeit für uns, weil sie viel arbeiten mussten, um sich irgendwie die Miete leisten zu können und über die Runden zu kommen. Wir blieben meistens bis es dunkel war hier draußen, fern von allen Problemen, die zu Hause auf uns warteten. Ich war sieben Jahre alt, als es geschah."
Ihre Stimme war ganz monoton und ich hatte schon mal von ihrer Geschichte gehört, doch nie von ihr selbst. Normalerweise sprach sie nicht darüber, was in jener Nacht geschehen war.
„Eines Abends sind wir erst ganz spät nach Hause gegangen. Bill hatte immer Spaß daran, mich zu erschrecken und wählte die gruseligsten Wege. Er hat sich nie gefürchtet. Doch an jenem Abend hatte er die falschen Gassen gewählt. Wir hörten den dumpfen Knall, ehe wir das Gesicht des Mannes gesehen hatten, der für das Zusammensacken des anderen Mannes verantwortlich war. Bill blieb in diesem Moment regungslos stehen, ich zog verzweifelt an seinem Ärmel, doch er rührte sich nicht. Es dauerte wenige Sekunden, ehe unsere Anwesenheit bemerkt wurde und ich bettelte Bill an, wegzulaufen, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Als sich die Waffe des Killers auf uns richtete, wachte er auf und stellte sich vor mich mit dem Rücken zur Waffe. Er wusste, dass wir keine Chance hatten, es folgten mehrere Schüsse und aus irgendeinem Grund erkannte er, dass dieses Monster nachladen musste und schrie mich an, dass ich laufen sollte. Und ich lief wie ich in meinem Leben noch nie gelaufen bin. Nicht ein einziges Mal schaute ich zurück, hatte die Worte meines Bruders im Kopf und dachte, seinen Atem im Nacken zu spüren, doch als ich zu Hause ankam, war ich alleine. Ihn hatten mehrere Schüsse getroffen und er hatte mich vor jedem abgeschirmt. Er ist der Grund, wieso ich hier bin. Und ich habe seinen Mörder bis heute nicht eingesperrt."

„Das tut mir leid, Ashley." Ich senkte betroffen den Kopf, diese Welt war so ungerecht und man selbst konnte so wenig dagegen tun. Die Erschöpfung saß tief in meinen Knochen und ich könnte jeden Moment im Gras zusammensacken. Ich bemerkte das Zittern meiner Glieder, die in der dauerhaften Anspannung vollkommen überstrapaziert waren.

„Ja, mir auch. Denn ich bin der Grund, wieso er nicht hinter Gittern sitzt. Weil ich keinen kühlen Kopf behalten habe. Mach nicht denselben Fehler wie ich, denn das verzeihst du dir niemals, Ben. Geh nach Hause, ruh dich aus und komm mit frischem Kopf wieder. So hilfst du niemanden und nimmst Raven jede Chance auf Rettung." Sie stand auf, ohne mich anzusehen, und ging davon.

Es dauerte einige Minuten, ehe ich mich dazu fähig sah, aufzustehen. Sie hatte Recht. Doch auf dem Heimweg beschlich mich ein komisches Gefühl. Tränen liefen mir über die Wangen. Es gab Gründe, wieso ich mich nicht traute, nach Hause zu gehen. Es war so leer und kalt ohne sie. Erst dort wurde mir wieder schmerzlich bewusst, dass meine Raven weg war und in Lebensgefahr schwebte, dass sie wegen mir schon tot sein könnte. Doch am größten war die Angst davor, sie in einem Paket vor der Haustür zu entdecken.

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Ich wachte zum achten Mal auf und langsam beschlich mich das Gefühl, beobachtet zu werden. Es war intensiver denn je und ich fragte mich, woher das rührte, doch ich ließ mich in meiner Routine nicht beirren. Nach der Sporteinheit, setzte ich mich auf den Stuhl, der in der Nähe meines Bettes stand. Der andere Stuhl stand unberührt neben der Hüttentür. Es war sein Stuhl und ich würde eher sterben, als diesen anzufassen.

Meine Hände zitterten unkontrolliert und ich fragte mich, woher das kam. Gedanklich waren für mich schon Monate vergangen, wohingegen man wohl eher von wenigen Tagen sprechen konnte. Traurig wie hilflos man ohne jegliche zeitliche Orientierung war. Ben sprach immer von der 48- Stunden Regel, danach wurde es immer unwahrscheinlicher, dass eine Entführung zugunsten der entführten Person ausging. Ich schloss die Augen und umklammerte meine Beine mit meinen Armen. Die waren sicherlich längst vorbei. Stumme Tränen entwichen mir und ich rügte mich selbst für meinen Schwächeanfall.

Mein Gesicht schmerzte und vorsichtig tastete ich es zum hundertsten Mal ab. Gebrochen schien mein Kiefer nicht, doch die Schwellungen versprachen ein farbenfrohes Farbenspiel, das sich um meine Rippen und Arme zog. Ich konnte den seelischen Schmerz kaum von den körperlichen Schmerzen auseinanderhalten und wiegte mich vor und zurück, um mich selbst zu beruhigen. Je weniger ich darüber nachdachte, desto besser für mich.

Ich lenkte mich ab, indem ich an den Metzger dachte und alle Informationen, an die ich mich erinnern konnte. Ben hatte erzählt, dass der Serienkiller erfolgreiche Frauen entführte und sie dann zerstückelt in einem Paket nach Hause schickte. Er wurde hinzugezogen mit seinem Team und arbeitete noch gar nicht so lange an diesem Fall. Rächte sich der Metzger nun an Ben, indem er mich ihm wegnahm? Oder hatte er mich schon vorher im Visier? Ich musste unbedingt mehr herausfinden. Irgendetwas musste es doch geben, was mich weiterbrachte. Mir kamen seine Zähne wieder ins Gedächtnis. Er hatte sie sonst kaschiert. Gab er sich vielleicht ganz anders äußerlich als er eigentlich war? Doch weshalb achtete er noch auf die Verkleidung, wenn nach seinem Ermessen keines seiner Opfer diese Hütte lebend verließ. Es ergab so vieles keinen Sinn und ich bemerkte, wie sich ein stechendes Gefühl in meinem Hinterkopf breit machte. Zusätzlich ein leichter Druck. Ich massierte meine Schläfen in der Hoffnung, die ankündigenden Kopfschmerzen beiseite schieben zu können.

Ich verfluchte mich selbst für die vielen Male, in denen ich Ben nicht richtig zuhörte, wenn er mir grundlegendes Verhalten in Risikosituationen näher bringen wollte. Allerdings hatten wir genug Krimis und Thriller gesehen. Ich versuchte mich an Entführungssituationen zurückzuerinnern. Kooperatives Verhalten und Beziehung aufbauen, fiel mir spontan ein, doch Entführungen waren meist an Forderungen gekoppelt, die es hier nicht gab. Was sollte mir das also in meiner aktuellen Situation bringen?

Andererseits kann er mich ja vor lauter Sympathie vielleicht nicht mehr kaltblütig ermorden und lässt mich laufen. Vielleicht wird er dann unvorsichtig und ich bekomme noch eine Chance. In meinem Kopf entwickelte sich eine neue Strategie. Werde zum Freund deines Feindes und er wird dich nicht töten. 

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⏰ Last updated: Dec 27, 2022 ⏰

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The Special VictimWhere stories live. Discover now