Kapitel 4

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Sie lebte, redete ich mir ein. Das musste sie einfach.

„Wie lange war die Spanne zwischen Entführung und Paketzustellung", fragte ich ungeduldig. Ich hatte seit 45 Stunden nicht mehr geschlafen und ich war mir sicher, dass es eine Überdosis Koffein gab, die ich längst überschritten hatte. Doch von ihr noch immer keine Spur.

Halt durch, Raven! „Sie schwankte immer zwischen drei und 14 Tagen. Der späteste Todeszeitpunkt war von der Autopsie nach circa zehn Tagen diagnostiziert worden.", antwortete meine Partnerin, während sie sich auf die Tafel fixierte. „Ich brauche einen Kaffee." Mit diesen Worten verschwand sie und ließ mich zurück. Inzwischen arbeiteten wir zu zehnt. Das war das Maximum, mehr konnte man für einen solchen Fall nicht ansetzen.

Dreizehn Frauen und kein Ende in Sicht. „Sie passt nicht ins Muster." Ashley seufzte müde. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass sie wieder zurückgekommen war. „Wieso? Reich, erfolgreich, hübsch. Das waren doch die Hauptkriterien.", erwiderte ich genervt. Das Letzte, was wir nun brauchten, waren unlogische Sachverhalte, die uns vor noch mehr Fragen stellten.

„Schau dir die Opfer genau an, sie besaßen so viele Gemeinsamkeiten, dass wir genau auf die Zielgruppe schließen konnten. Es waren Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Beruflich vielversprechende Karriere in New York, ein ansehnliches Aussehen, einen perfekten Ehemann. Augenscheinlich hatten all diese Frauen keinerlei Probleme. Weder finanzielle noch gesundheitliche Schwierigkeiten. Diese Menschen waren perfekt. Und was gehört zu einem perfekten Familienbild?"

„Kind und Haus.", bemerkte ich. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. „Aber wir hatten weder Kinder noch wohnten wir in einem Haus, sondern bezogen eine gemeinsame Wohnung."

„Bingo, das bedeutet, dass er aus irgendeinem Grund seine bekannte Vorgehensweise verlassen hat, er hat seine Muster und Raster verlassen. Jetzt stellt sich also eher die Frage, wieso hat er sich deine Frau ausgesucht? Wenn es doch in seinem Sinn kein perfektes Opfer ist. Sie entspricht nicht allen seinen Kriterien."

„Wir haben also einen zwanghaft an Mustern festhaltenden Mann, der eine Ausnahme macht. Na und? So sehr unterscheidet sie sich nun auch wieder nicht." Lucas zuckt mit den Schultern und schaut Ashley unbeeindruckt an.

Doch sie hatte Recht, irgendetwas stimmte an seiner Auswahl nicht. Er hatte ein perfektes System entwickelt, es lief stets gleich ab. Das gleiche Auswahlverfahren seiner Opfer, die gleiche Art der Entführung, jeder bekam diesen Brief und jeder Mann bekam seine Frau per Paket in Einzelteile nach Hause zurückgeschickt. Plötzlich wurde mir übel bei dem Gedanken Raven eines Tages so wiederzubekommen. Schnell eilte ich in Richtung Toilette. Ich schaffte es nicht mal mehr in die Kabine, sondern entschied mich zeitbedingt für das Waschbecken. Galle fand sich dort wieder und ich erbrach größtenteils Flüssigkeiten. Was sollte schon aus mir herauskommen? Ich wusste kaum noch, wann ich zuletzt etwas gegessen hatte. Tränen als Ausdruck meiner Verzweiflung bahnten sich ihren Weg über mein Gesicht. Raven. Ihr Gesicht erschien mir so klar wie am ersten Tag. Meine verfluchte Jugendliebe.

„Geht es wieder?" Ashley stand an der Tür und sah mich mitleidig an. Ich nickte schwach, zu groß war die Angst, dass meine Stimme versagen würde. Erschöpft wusch ich mein Gesicht mit kaltem Wasser ab. „Sie werden dich von dem Fall abziehen." Das müssen sie wohl. „Persönliche Befangenheit." Wir beide wussten, was der Grund dafür war, doch sie schien es als notwendig zu erachten, es mir trotzdem nochmal mitzuteilen.

Und plötzlich erschien mir ein Geistesblitz. Das war es. Ich stürmte an ihr vorbei und lief in Richtung meines Arbeitsplatzes. Sie folgte mir merklich irritiert und dachte wohl, ich würde jeden Moment zusammenbrechen, doch das würde den Durchbruch bedeuten.

The Special VictimWo Geschichten leben. Entdecke jetzt