Kapitel 14 │Niederschläge

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Als endlich der Morgen graute und ein schwaches Licht auf die Schlafsäcke fiel, durchströmte sie eine ungeheure Erleichterung. Es bedeutete das Ende des nächtlichen Martyriums. Sie alle waren bis auf die Knochen durchgefroren. Mit zitternden Bewegungen begann James sich zu regen, blinzelte träge über den Rand des Schlafsacks hinweg und erschauderte, als seine Finger anstelle von Stoff in eisigen Schnee griffen. Er hatte sie unter einer zentimeterdicken Schicht begraben und sich wie eine weiche, weiße Decke über sie gelegt. Bevor er den Schlafsack von sich schob, verschwand er noch einmal darunter, warf einen prüfenden Blick auf seinen Bruder und stellte erleichtert fest, dass sich Olivers Schultern hoben und senkten. Behutsam befreite James sie beide von dem zugeschneiten Stoff und vernahm dabei leise Knirsch und Knacklaute. Offenbar war Schnee in den Schlafsack geraten und er von innen gefroren. Doch nicht nur dieser. Seine Kleidung war ebenfalls vor Kälte erstarrt.

Bebend richtete James sich auf, einige Andere waren bereits auf den Füßen und als er sie sah, war er entsetzt. Haare und Lippen glitzerten von Raureif, sie bewegten sich steif und langsam wie alte Männer und Frauen, an ihren Brauen und Wimpern hingen winzige Eisklumpen. Vermutlich bot er selbst ein ebenso erschreckendes Bild.

An der Felswand entlang tat James einige wackelige Schritte und hielt sich schützend eine Hand vor die Augen. Die schneebedeckte Landschaft wurde von der Morgensonne in ein hartes, gleißendes Licht getaucht, welches ihm in den Augen stach. Überall glitzerten die umliegenden Hänge vom Schnee, noch immer wehte ein stärkerer Wind, doch die Sicht war hell und klar und der Himmel von reinstem Azurblau. Am Fuß des Hanges entdeckte er Teile der zerfetzten Zeltplane.

Einen Moment lang verharrte er in den ersten Sonnenstrahlen, sie spendeten Hoffnung und Wärme und hatten etwas Tröstliches. Irgendwann gesellten sich auch Alex, Gruber, Murphy und Greenstein zu ihm und James spürte, wie ihn die Sonne ganz langsam auftaute. Er bekam wieder Gefühl in Armen und Beinen und kam sich nicht mehr wie ein lebendes Tiefkühlprodukt vor. Den Anderen schien es ebenso zu ergehen, fröstelnd rieben sie sich über die Arme, hauchten in ihre Hände und begannen bald schon vereinzelte Gespräche, während James zu den Schlafsäcken zurückkehrte. Vorsichtig fasste er die Schulter seines Bruders und schüttelte sie leicht.

„Oliver", versuchte er ein Zeichen der Regung zu erhalten. Nochmals rüttelte er an seiner Schulter, etwas energischer jetzt. „Hey..."

Für einen Moment nistete sich ein grausamer Gedanke in seinem Kopf ein, da endlich veränderte sich Olivers Atmung hörbar. Ein Schnaufen entwich ihm, seine Augenlider begannen zu beben, hoben sich schwerfällig und offenbarten einen schmalen Streifen dunklen Brauns. Er war wieder bei Bewusstsein. James atmete tief aus, eine Welle der Erleichterung brandete ihn ihm auf und entlockte ihm ein Lächeln.

„Ich bin's, James", gab er sich zu bekennen, wenngleich er sicher war, dass sein Bruder ihn längst an seiner Stimme erkannt haben musste. Unter einem erneuten Schnaufen blinzelte dieser zu ihm hoch, schloss aber sogleich wieder die Augen, da es ihn anstrengte.

„Wie fühlst du dich?", wollte James wissen, dessen Lächeln schnell verblasste, denn Oliver war zwar wach, doch er hatte nie schlechter ausgesehen. Ein andauerndes Zittern hatte Besitz von ihm ergriffen, sein Gesicht war bleich, der linke Wangenknochen noch immer von einer Kruste aus Eis und Reif überzogen und er machte einen fiebrigen Eindruck.

„Mir ist 'n bisschen kalt", brachte er schwach hervor und zwang sich zu einem gequältem Lächeln, das jedoch in keinster Weise eine beruhigende Wirkung auf seinen Bruder hatte. „Was ist passiert?", wollte Oliver wissen, offenbar verwirrt über die Tatsache, dass er am Boden lag.

Besorgt sah James auf ihn hinunter, schälte sich aus seiner Jacke und breitete sie über ihm aus. „Du bist umgekippt und warst ganz schön lange weg", gab er Auskunft, blickte über die Schulter und fand, wonach er suchte. „Elaine?", rief er nach der Australierin, die soeben ihren Rucksack nach ihrer Trinkflasche durchsuchte.

Fragend hob sie den Kopf, kam zu ihnen hinüber und hockte sich zu ihnen.

„Ist er wach?"

„Ja, aber er sieht nicht gut aus."

„Er atmet viel zu flach", fiel ihr sofort auf.

„Und was bedeutet das?", hakte Alex nach, der wie einige Andere unbemerkt an sie herangetreten war.

„Dass ihm das Atmen schwerfällt", erklärte Elaine.

„Woran siehst'n das?", fragte er mit ehrlichem Interesse.

„An den Nasenflügeln. Kann ich ihn mir jetzt bitte in Ruhe weiter anschauen?", gab Elaine mit leichter Ungeduld zurück und fasste nach Olivers Handgelenk, was Alex vorerst keine weiteren Fragen stellen ließ. Einen Moment lang prüfte sie stumm seinen Puls, ehe ihre Hand an seine Stirn wanderte und sie zu einem schlechten Urteil kam. „Er glüht vor Fieber. Hast du Schmerzen beim Atmen?", wandte sie sich nun direkt an Oliver, der müde nickte. Trotz der Kälte öffnete Elaine unter anfänglichen Schwierigkeiten den vereisten Reißverschluss seiner Jacke und tastete durch den Pullover seinen Oberkörper ab, bis er plötzlich unter einem gequälten Schmerzenslaut verkrampfte.

„Gebrochen ist, glaube ich, nichts", teilte sie ihnen mit. „Könnten vielleicht Knorpel im Brustkorb sein, die gerissen sind. Das würde die Schmerzen beim Atmen oder Husten erklären."

„Das klingt ja schonmal nicht sooo schlecht", merkte Murphy an, wohl mit der Absicht dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen.

„Soll ich dir mal ein paar Knorpel raushauen?", bot Ramsland an. „Mal gucken, ob du das dann immer noch sagst."

„So meinte ich das doch gar nicht", wehrte Murphy ab. „Ich meinte nur, dass das ja noch halbwegs okay ist. Also es könnte weitaus schlimmer sein, meine ich."

„Du machst es nicht besser", wies ihn Greenstein auf seine schwachen Erklärungsversuche hin.

James ignorierte das Gerede der Anderen. Mit einem unguten Gefühl sah er zu Elaine, deren Gesichtsausdruck ihm verriet, dass ihre Diagnose nur einen Teil der Wahrheit abdeckte und es schlecht um Oliver stand.

„Wenn man vom Ganzen ausgeht ist es auch nicht das Schlimmste", bestätigte sie seine Vermutung, befühlte unterdessen die Hände seines Bruders und schien zu keinem zufriedenen Ergebnis zu kommen. „Das Fieber macht mir mehr Sorgen."

„Vielleicht hat er sich was eingefangen", äußerte Jarvis seine Theorie. „Der ist doch nicht ansteckend, oder?", setzte er alarmiert hinterher, während Elaine ihre Hände aneinander rieb und eine davon an Olivers Wange legte, um langsam die Eiskruste aufzutauen.

„Der hat auch 'nen Namen!", stellte Alex klar.

„Ja, und sind das vielleicht Zwillinge, Blödmann?! Woher soll ich denn wissen, wer von beiden wer ist?"

„Man, die haben sogar andersfarbige Jacken an! Und auch wenn man es nicht weiß, muss man das trotzdem nicht so herablassend sagen."

„Oh ja! Herr Schlauberger weiß natürlich die Antwort. Ich kann sie gar nicht wissen, weil ich nicht mit ihnen in einem Zelt gepennt habe! Außerdem geht es dich 'nen Dreck an, was ich sage!"

„Ich weiß es auch so, dafür muss man nicht mit ihnen in einem Zelt schlafen!"

„Könnt ihr jetzt endlich mal den Schnabel halten?", herrschte Ramsland sie an. „Wenn ihr streiten wollt, dann macht das woanders, aber nicht hier, klar!?"

„Leute?", hörten sie da Dillmans Stimme hinter ihnen. „Sarah ist tot."

Mit einem Schlag fuhren sie herum und es herrschte bestürztes Schweigen.

„Was?", hauchte Alex, als habe er ihn nicht verstanden. „Wie?"

„Sie ist erfroren."

Purer Unglauben stahl sich in ihre Gesichter, sie suchten nach einer Lüge in seinen Augen, doch die Tränen, die nun darin aufkamen, sprachen die bittere Wahrheit. Wie so oft traf sie der Tod völlig unvorbereitet.

„Aber sie hat doch gerade noch da gelegen, ich hab sie doch gesehen", räumte Murphy ein, der es einfach nicht glauben wollte.

„Zu dem Zeitpunkt war sie schon tot", bestätigte Dillman nickend.

„Seid ihr sicher? Ich meine-"

„Sie ist tot, Murph! Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihre Hände sind voller Erfrierungen, sie muss sich in der Nacht irgendwann die Kleidung vom Leib gerissen haben. Ihre Jacke und ihr Pullover lagen direkt neben ihr, sie hat nur noch ihr T-shirt an", presste er die schmerzhaften Details hervor, um auch die letzten Zweifel zu beseitigen. „Du würdest sie nicht sehen wollen, glaub mir... sie sieht schrecklich aus."

Ein betretenes Schweigen trat ein, in dem sie schluckten, sich zerrüttet durch die Haare fuhren und es zu verstehen versuchten.

„Wo ist sie jetzt?", wollte Greenstein nach dem ersten Schock wissen.

„Dahinten", verriet Dillman mit einer Kopfbewegung Richtung der letzten noch schattigen Ecke des Felsens.

„Okay...", krächzte Murphy mit tränenerstickter Stimme nickend.

„Sie hat die ganze Nacht geschrien", eröffnete Greenstein und fühlte sich elendig. „Ich dachte, sie hätte den Verstand verloren und mich gefragt, wann sie endlich die Klappe hält."

„Ich glaube, das haben wir alle gedacht", stimmte Jarvis zu und ein Blick in die Augen der Anderen sagte ihm, dass er recht hatte. Schämend senkte sie ihre Häupter.


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