Kapitel 19 │Ein gehaltenes Versprechen

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Als er am nächsten Morgen aufwachte, war das erste, das James wahrnahm, sein schmerzender Kopf. Schnaufend drehte er sich auf die andere Seite und warf einen Blick auf die Uhr zu seiner Linken - es war zehn vor neun. Sonnenstrahlen fielen durch den schmalen Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen hinein und tauchten den Raum in ein warmes Licht. Wirklich erholt fühlte er sich nicht, zudem spürte er wieder einen brennenden Durst, der erst erlosch, als er die auf dem Nachttisch stehende Wasserkaraffe zu Dreivierteln leerte. Auch sein Magen meldete sich nun, da sein Körper nicht mehr auf den Überlebenskampf fixiert war, mit aller Dringlichkeit. Er hatte einen riesigen Hunger. Eine Krankenschwester brachte ihm eine Suppe und ein Stück Brot, es war nicht viel und doch war die erste Nahrung seit einer Woche. Ausgehungert fiel er fast schon darüber her, musste jedoch feststellen, dass er das Brot nicht ohne Schwierigkeiten hinunterbekam. Offenbar war seine Kehle geschwollen, ein plötzlicher Brechreiz überkam ihn und fast schien es, als hätte sein Körper vergessen, wie man aß, denn das Kauen funktionierte anfangs nur schwerfällig. Auch das Schlucken bereitete Probleme, weshalb er das Brot vorerst beiseite legte und es erst später in die Suppe zu tunken begann. Auf diese Weise fiel das Essen leichter, dennoch brannte seine Kehle unter der gewürzten Kost. Eine wohlige Wärme breitete sich in seinem Magen aus, sobald er den letzten Löffel aufaß, es tat gut und war erleichternd, endlich wieder etwas essen zu können.

Gesättigt stellte er den Teller auf den Nachttisch und lehnte sich zurück. Einen Moment lang wartete er noch, dann schlug er die Decke fort, um etwas in Angriff zu nehmen, das er schon die ganze Zeit über hatte tun wollen. Eilig setzte er die Füße auf den Boden und erhob sich, just in dem Moment öffnete sich die Tür. Die Krankenschwester trat ein.

„Wo wollen sie hin?", wollte sie wissen.

„Ich wollte nur", begann er und allein seine Handbewegung Richtung Tür reichte aus, um sie in Alarmbereitschaft zu versetzen. Weiter kam er nicht, da schob ihn die Dame auch schon entschieden zum Bett zurück. Er war kaum in der Lage, Gegenwehr zu bieten, diese Tatsache zeigte ihm einmal mehr, wie wenig Kraft er noch hatte.

„Oh nein, das geht leider nicht", wehrte sie in bedauerndem Tonfall ab. „In ihrem Zustand sollen sie im Bett liegen bleiben und sich ausruhen. Auf Anweisung des Arztes."

„Ich bin ausgeruht", beeilte er sich zu antworten, doch die Krankenschwester sah das offenbar anders.

„Nein, sind sie nicht", entgegnete sie, eine Spur sanfter jetzt, aber nicht weniger beharrlich.

„Ich will nur eben zu meinem Bruder", erklärte er und auch sein Versuch, sich an ihr vorbeizudrängen nützte nichts, da ihn ein plötzlicher Schwindelanfall überkam, in dem es ihr gelang, ihn zurück aufs Bett zu dirigieren. Sein Kreislauf hatte ihm das schnelle Aufstehen deutlich übel genommen.

„Sie sind noch schwach", teilte man ihm mit. „Ruhen sie sich bitte erst noch aus. Wenn wir denken, dass sie wieder bei Kräften sind, spricht nichts dagegen, aber im Moment sollten sie sich schonen."

Gefangen in dem Schwindelanfall konnte er ihr nicht wirklich widersprechen, ächzend sank er in die Kissen zurück und wartete darauf, dass die Umgebung aufhörte zu schwanken. Er hörte das Rascheln der Bettdecke, als sie diese über ihn zog und glatt strich.

„Liegenbleiben", schärfte sie ihm ein.

Das Zufallen der Tür verriet ihm, dass sie verschwunden war. Es dauerte etwa eine Minute, bis sein Kreislauf sich einigermaßen stabilisierte und der Schwindel sich legte. Er verharrte noch einen Moment, ehe er sicher war, dass die Krankenschwester nicht zurückkam, dann schlug er erneut die Bettdecke beiseite und stand auf. Seine Füße hatten gerade erst den Boden berührt, da kehrte zu seinem Schreck die Krankenschwester zurück. Entweder hatte sie sein Vorhaben bereits geahnt oder sie war zurückgekehrt, um das auf dem Nachttisch vergessene Geschirr abzuholen, das sie schon beim ersten Mal hatte mitnehmen wollen. Abrupt hielt sie in der Tür inne.

„Ah!", machte sie und schenkte ihm einen indignierten Blick. „Ernsthaft? Hinlegen", befahl sie. „Sofort."

„Ach kommen sie schon! Nur ein paar Minuten!", bettelte er.

„Ich hab doch schon gesagt-"

„Bitte!", setzte er flehentlich hinterher und endlich sah er einen Hauch von Mitleid in ihren Augen aufflackern. „Ich will ihn nur kurz sehen", stellte er unter dem herzerweichenstem Blick klar, den er aufbringen konnte. Noch immer sah sie ihn mit anhaltender Strenge an, doch allmählich begann diese zu bröckeln und es brauchte nicht mehr viel, bis sie nachgeben würde. „Sobald sie zur Tür rausgehen, versuche ich es sowieso wieder", gab er zu bedenken, was sie hörbar seufzen ließ.

„Na schön", räumte sie ein. „Aber sie gehen nicht allein. Ich komme gleich wieder und bringe sie hin, solange bleiben sie liegen, klar?"

James nickte. „Danke", gab er lächelnd zurück, woraufhin die Krankenschwester bloß die Augen verdrehte und eine vielsagende Kopfbewegung machte. Gehorsam nahm er auf dem Bett Platz, um auf ihre Rückkehr zu warten und sie hielt ihr Versprechen. Nach etwa zehn Minuten trat sie wieder ins Zimmer.

„So...", murmelte sie. „Dann los. Aber langsam."

Einen Arm ausgestreckt, um im Notfall eingreifen zu können, hielt sie ihm die Tür auf und geleitete ihn hinaus. Noch ziemlich wacklig auf den Beinen folgte er ihr durch viele Gänge und Flure zu einer anderen Station und sah zu, wie sie im Gehen Unterlagen sortierte. Immer wieder warf sie ihm teils besorgte, teils prüfende Blicke zu, bis sie nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich in den Zielkorridor einbogen. An einer schweren Schiebetür kam sie zum Stehen.

„Hier ist es", ließ sie ihn wissen, ehe sie die Tür aufzog. „Wenn irgendetwas sein sollte, dann sofort melden oder klingeln. Die Kollegin weiß Bescheid, ich hole sie später wieder hier ab."

Nur noch mit halbem Ohr zuhörend, trat James in den Raum, während sie die Tür hinter ihm schloss und weiter ihrer Arbeit nachging. Seine Aufmerksamkeit hatte sich längst auf seinen Bruder gerichtet, der reglos in den kühlen weißen Laken des Krankenhausbettes lag und seltsam verloren darin wirkte. Es war ein furchtbar befremdlicher Anblick und nur das gleichmäßige Heben und Senken von Olivers Brustkorb und das in seiner Herzfrequenz piepende EKG versicherte ihm, dass noch Leben in ihm steckte. In seiner Nase steckte eine Sauerstoffzufuhr, in seiner Hand eine Infusionsnadel und auch er trug eines der Krankenhaushemden. Erst jetzt, da er nicht mehr in die vielen Kleiderschichten gehüllt war, wurde nur allzu ersichtlich, wie schrecklich dünn er geworden war. Seine Hände sahen knochig aus und die Wangen waren eingefallen. Schlank waren sie beide immer schon gewesen, jedoch mit sportlicher Figur, welche nun einer besorgniserregenden Magerkeit gewichen war.

Nach anfänglicher Beklommenheit trat er näher an das Bett, rückte einen in der Ecke stehenden Stuhl heran und setzte sich. Zu sehen, dass Oliver ohne maschinelles Zutun selbstständig atmete war zwar erleichternd, doch er war noch immer erschreckend blass und nichts deutete darauf hin, dass er in den nächsten Minuten aufwachen würde. Vermutlich registrierte er nicht einmal seine Anwesenheit. Er war auch nicht sicher, ob Oliver ihn würde verstehen können, wenn er mit ihm redete. Selbst wenn er es könnte - er hätte ohnehin nicht gewusst, was er sagen sollte. Es war wieder das altbekannte hilflose Gefühl, das ihn überkam, denn er konnte nichts ausrichten. Im gleichen Moment wurde ihm jedoch bewusst, wie sehr es an Bedeutung verlor angesichts der Tatsache, hier sitzen und den unaufhörlich erklingenden Herztönen lauschen zu können. Es zeugte davon, dass der Körper seines Bruders gegen die Krankheit ankämpfte und ihn weiterhin am Leben erhielt. Er hatte noch nicht aufgegeben und tat es auch jetzt nicht.

Eine ganze Zeit lang saß er schweigend am Bett, starrte abwechselnd in das reglose Gesicht seines Bruders und zum Fenster. Draußen bogen sich die Äste einer Kiefer leicht im Wind. Das Geräusch der Tür, die zur Seite geschoben wurde, ließ ihn einen Blick über die Schulter werfen. Eine der Pflegerinnen trat ein, grüßte lächelnd, tauschte die Infusion aus, kontrollierte die Geräte, schenkte ihm ein paar aufmunternde Worte und verschwand wieder.

Nicht lange danach veränderten sich die Atemgeräusche zu seiner Linken plötzlich hörbar, was James aus seiner gedankenverlorenen Starre riss. Den Blick gebannt auf das Gesicht seines Bruders gerichtet, wartete er auf das Zeichen einer Regung und tatsächlich. Seine Lider begannen zu beben, er wachte auf. Entweder war es Zufall oder der Klang einer vertrauten Stimme, die ihn geweckt hatte. Die Augen zu öffnen fiel ihm sichtlich schwer, dann, nach schier endlosen Minuten jedoch, drehte Oliver ihm leicht den Kopf zu. James war nicht sicher, ob sein Bruder ihn überhaupt wahrnahm, denn er schaffte es gerade einmal, einen schmalen Spalt breit die Lider zu heben.

„Olli?", sprach er ihn behutsam an.

Es dauerte etwas, bis sich dessen trüber Blick fokussierte, er schien wie aus weiter Ferne zurückzukommen, doch dann schien Oliver ihn zu erkennen. Er brachte den schwachen Ansatz eines Nickens zustande, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. James konnte förmlich spüren, wie eine schier tonnenschwere Last von ihm abfiel, das Engegefühl, das sich um seine Kehle gelegt hatte, löste sich in Luft auf. Stumme Dankesrufe zum Himmel schickend, gestattete er sich ein erleichtertes Aufatmen und sah davon ab, die Klingel zu drücken, die vermutlich sämtliches Pflegepersonal auf den Plan rufen würde. Vorerst wollte er mit ihm allein sein.

Ziellos und mit einiger Verwirrung sah Oliver durch den Raum, offenbar um sich Orientierung zu verschaffen, ehe ihm wieder die Augen zufielen.

„Wie geht's dir?", erkundigte sich James.

Eine Antwort erhielt er nicht, doch dass es ihm immer noch nicht besonders gut ging, konnte er auch so an seinem Gesicht ablesen. Wenngleich seine Züge dank erhaltener Medikamente weitaus weniger gequält wirkten, als es in den Bergen der Fall gewesen war.

Für einen Moment herrschte Stille.

„Wo sind wir?", brachte Oliver schließlich erschöpft hervor.

„Im Krankenhaus", klärte James ihn rasch auf.

„Warum?", wollte sein Bruder wissen.

Es war kaum mehr als ein angestrengtes Flüstern, dass er über die Lippen brachte und für einen Wimpernschlag lang war James irritiert, da er nicht wusste, was er damit meinte. Fragte er danach, wie sie hierhergekommen waren oder hatte er überhaupt keine Erinnerung an alles Geschehene? Da Oliver kaum Kraft zum Sprechen aufbrachte, sah er von einer weiteren Nachfrage ab und setzte zu einer Antwort an.

„Wir waren doch in den Bergen. Die Lawine, der Schneesturm,... erinnerst du dich nicht mehr?"

„Nein...", hauchte Oliver mit geschlossenen Lidern. „Ich meine... wie wir...", setzte er an, brach jedoch ab, da er für längere Sätze zu erschöpft war und es ihn anstrengte.

„Das Rettungsteam hat uns gefunden", erklärte James, der seine Frage in Gedanken zu Ende brachte und nun das weitergab, was er aus den Berichten ihrer Eltern wusste. „Matt, Randall oder Karen müssen eine GPS Uhr dabei gehabt haben, damit konnten sie uns orten. Mit einem Hubschrauber haben sie uns rausgeholt", fasste er es kurz zusammen. Die ausführlichere Version konnte er ihm schildern, wenn er wieder bei Kräften war.

Unter einem verlangsamten Nicken versicherte dieser, dass er zuhörte.
„Die Anderen?", erkundigte er sich dann nach dem Verbleib ihrer ehemaligen Gefährten.

Insgeheim hatte James gehofft, diese Frage noch nicht beantworten zu müssen und es so lange wie möglich hinauszögern zu können. In seinem derzeitigen Zustand wollte er ihn noch nicht damit belasten, weswegen er nach Worten suchte, um es ihm so schonend wie möglich beizubringen. Natürlich wollte Oliver es wissen, so wie er selbst es auch hatte wissen wollen. Da er geschockt darauf reagiert hatte, fürchtete er darum, wie sich die Hiobsbotschaft auf den Gesundheitszustand seines Bruders auswirken könnte. Er rang zu lang mit sich selbst, Olivers Lider hoben sich schwerfällig, ihre Blicke trafen sich und das Ausbleiben einer Erklärung war Antwort genug. James wusste, dass er nichts mehr zu sagen brauchte. Ruhig drehte sein Bruder den Kopf zurück in eine gerade Haltung und atmete tief durch. Ihm die Nachricht von Alex Tod zu überbringen würde eine weitere schmerzliche Aufgabe werden und James war nicht sicher, ob er es ihm hier und jetzt sagen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschieben sollte. Vielleicht würde es zu viel für ihn werden. Doch Oliver hatte ein Recht darauf es zu erfahren, er an seiner Stelle hätte es ebenso wissen wollen, weshalb er sich für das Mitteilen der bitteren Wahrheit entschied.

„Karen, Matt und Randall haben es mit uns dort heraus geschafft", setzte er vorsichtig an und es kam genau, wie er erwartet hatte.

„Alex?", erkundigte sich Oliver sogleich.

„Er ist tot", formulierte er es knapp und eindeutig, um es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen und keine falschen Hoffnungen zu schüren. Angespannt achtete er auf jede kleinste Regung, die verraten würde, was gerade in seinem Bruder vorging, begleitet von der Angst, sein Zustand könne sich nach der Nachricht abrupt verschlechtern. Doch sie war unbegründet, nichts dergleichen geschah. Kein alarmierender Warnton der Geräte ertönte, er atmete ruhig und stetig weiter, seine Augen blieben jedoch weiterhin verschlossen. Eine Reaktion, die er erwartet hatte, denn Oliver war noch zu schwach, als dass er sich einem Gefühlsausbruch hätte hingeben können. Derselbe Grund ließ ihn wohl auch nicht nach dem genaueren Todesumstand fragen. Es war eine stumme, energielose Traurigkeit. Und auch wenn er es erwartet hatte, wünschte James sich, dass Oliver etwas sagen würde, wenngleich er nicht einmal wusste, was er eigentlich hören wollte. Es war wohl nur dem Wunsch geschuldet, die eingetretene, erdrückende Stille zu vertreiben. Er konnte sich nicht daran erinnern, in Anwesenheit seines Bruders jemals um Worte verlegen gewesen zu sein, mit ihm konnte er stets über alles reden und nun saß er hier und schwieg.

„Mum und Dad sind hier", überbrachte James ihm eine Nachricht, von der er hoffte, dass sie ihn vielleicht wieder ein wenig aufmuntern würde. „Sie waren gestern schon hier, aber du warst noch nicht wach. Sie wollen heute wiederkommen."

Mit einem erneuten kaum vernehmbaren Nicken nahm Oliver es zur Kenntnis. Wieder herrschte minutenlanges Schweigen, in dem James den Blick auf seine Hände senkte. Gedankenlos musterte er sie und als er aufsah, bemerkte er, dass Oliver ihm wieder den Kopf zugewandt hatte und seinem Blick gefolgt war. Eine stumme Frage lag darin und James sah einen Anflug von Sorge in seinen Augen.

„Erfrierungen", las James seine Gedanken. „Sieht schlimmer aus, als es ist", beruhigte er ihn. „Die Ärzte meinen, das heilt wieder."

Aus halb geöffneten Lidern wanderte Olivers Blick auf seine eigenen Finger, die ruhig auf der Bettdecke lagen. Er drehte sie stockend und entdeckte dieselben rot-blauen Kältemale, bevor er abermals aufsah.

„Dein Kopf?", fragte er leise und wieder verstand James nicht, was er meinte, bis ihm das Blut einfiel, das ihm am Berg auf den Handrücken getropft war und er vergessen hatte. Prüfend fuhr er sich über die Stirn, auf der rechten Seite stießen seine Finger auf etwas Weiches. Offenbar ein Pflaster.

„Ich weiß nicht", gab er ehrlich zurück. „Ich hab gar nichts mitbekommen, glaube ich. Und wenn doch kann ich mich nicht erinnern. Wirklich", setzte er hinzu, da Oliver fraglich die Augenbrauen hob und er konnte nur mutmaßen, wie es passiert war. „Wir waren alle total hinüber und sind in den Schnee gefallen. Vielleicht habe ich dabei etwas Hartes getroffen."

Die Erklärung schien halbwegs ausreichend und durchaus plausibel. OIiver atmete erneut tief durch und schloss die Augen. Das kurze Gespräch war anstrengend gewesen, er war sichtlich müde und James überlegte, ob es nicht besser war, ihn weiter ausruhen und schlafen zu lassen.

„Danke...", hauchte sein Bruder da mit einem Mal.

„Wofür?", entgegnete er verwundert.

Noch einmal hob Oliver einen Spalt breit schwerfällig die Lider, sah ihn mit unerwarteter Willensstärke geradewegs an und in seinem Blick lag eine Bedeutungsschwere, die James verstehen ließ. Es war die Tatsache, dass er ihn nicht aufgegeben hatte und bei ihm geblieben war, auf die er ansprach und James war nicht sicher, ob er Bestürzen darüber empfinden sollte oder nicht. Er hatte nie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, ihn zurückzulassen. Und da nie das Gefühl von ihm abgelassen hatte, Schuld an ihrem Aufenthalt in den Bergen zu sein, war es für ihn selbstverständlich gewesen, sie auch wieder dort herauszuholen. Genauso selbstverständlich war es für ihn gewesen, Oliver nicht im Stich zu lassen. Er war sicher, dass sein Bruder dies wusste und an seiner Stelle dasselbe getan hätte, weshalb er nichts dazu zu sagen brauchte.

Schweigend schaute er auf Oliver, dem wieder die Augen zugefallen waren, hörte ihn schnaufen und sah, wie er unter ziemlicher Anstrengung die Decken von sich zu ziehen versuchte. Das Fieber hatte sich offensichtlich noch nicht gelegt.

„Nicht", stoppte James ihn inmitten seiner schwachen Versuche und hielt die Decke fest, da er befürchtete, Oliver könnte in seinem kraftlosen Bemühen an die Infusionsnadel in seiner Hand stoßen, versehentlich daran herumreißen und sich selbst verletzen. Ein neuerliches Schnaufen entwich seinem Bruder, diesmal jedoch nicht wegen eines fiebrigen Hitzeschubes, sondern aus Frustration.

Und auch wenn er noch nie schlechter ausgesehen hatte und schwächer gewesen war, konnte James nicht umhin, gewaltige Erleichterung und Dankbarkeit zu empfinden. Denn allein die Tatsache, dass Oliver atmete, reichte ihm in diesem Moment voll und ganz. Eine ganze Weile lang saß er da, sah ihn einfach nur an und zum ersten Mal seit Tagen legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Kein erzwungenes oder eines aus Höflichkeit, sondern ein befreites Lächeln, das ihm aus der Seele sprach.

„James?", brachte Oliver irgendwann ein weiteres Mal schwach hervor und James neigte ihm den Kopf zu, um ihn verstehen zu können.

„Ja?", entgegnete er schnell.

„Nimm eine Dusche... Du riechst furchtbar."

ColdWhere stories live. Discover now