Kapitel 11 │Rauschendes Flüstern

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Seit zwei Stunden lag James in Schlafsäcken eingewickelt im Zelt und starrte an die Nylonwand. Das Zittern hatte aufgehört, in all den Kleidungs- und Deckenschichten war ihm fast wieder angenehm warm geworden, doch die Erleichterung darüber bekam aufgrund der Tatsache, dass sein Rucksack unwiederbringlich fort war, einen heftigen Dämpfer. Während seinem Sturz durchs Eis und dem darauf folgendem Kampf im Wasser hatte er ihn verloren. Er war sich nicht einmal sicher, ob er sich vor lauter Panik unter Wasser nicht unbewusst selbst davon getrennt, weil das Gewicht ihn nach unten gezogen hatte.

Es war ohnehin egal, denn der Rucksack lag nun am Grund des Sees und er würde ihn nicht wieder bekommen. Frustriert stieß er ein Schnaufen aus. Es war zum verrückt werden und nicht nur der Verlust seines Rucksacks mit seinen Habseligkeiten frustrierte ihn. Es war die Situation, in der sie sich befanden, der Hunger, der Durst, die Kopfschmerzen, die anhaltende Kälte, das Fehlen jeglicher Anzeichen von Rettung und der Umstand, dass sie völlig auf sich allein gestellt waren. Seit Tagen sahen sie nur Eis und Schnee, sie mussten weiter vorwärtskommen und momentan war er einer derjenigen, die jeglichen Fortschritt verzögerten.

Seines Empfindens nach hatte er sich genug aufgewärmt, zudem behagte ihm der Trubel um seine Person nicht. Die bekümmerten Blicke seines Bruders, der die ganze Zeit über ein wachsames Auge auf ihn hatte, bedrückten ihn, da er wusste, dass er es war, der ihm den Kummer bereitete. Es gab ihm das Gefühl, bedauert werden zu müssen, doch derart schlecht ging es ihm nicht. Zumindest nicht mehr, denn ihm war beinahe wieder wohlig warm und das zum ersten Mal seit Tagen. Mit etwas Glück war vielleicht sogar seine Kleidung schon getrocknet. Um der Sache auf den Grund zu gehen und Grubers anhaltendem Gemurre über Hunger, Durst, Kopfschmerzen und überhaupt alles und jeden zu entfliehen, das ihm schon seit Stunden in den Ohren lag, befreite James sich langsam aus dem Schlafsack.

„Bleib doch li- okay, warte, ich helfe dir", bot Oliver ihm an, der wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, ihn von irgendetwas abzuhalten.

„Ne, geht schon", wehrte er gereizt ab, woraufhin Oliver von seinem Vorhaben, ihm Aufzuhelfen, abließ. Sobald er auf den Füßen stand, wischte jedoch eine Welle von Schwindel über ihn hinweg. Offenbar brauchte sein Kreislauf etwas Zeit, um wieder in Schwung zu kommen. Für einen Moment taumelte er. Noch im Augenwinkel registrierte er Olivers Hände, die vorschnellten, um ihn festzuhalten und es reichte aus, um sein ohnehin gespanntes Nervenkostüm zu zerreißen.

„Man, hau ab und nerv mich nicht, ich komme auch mal fünf Minuten ohne dich klar!", fuhr er ihn harsch an.

Abwehrend hob Oliver die Hände, trat zurück in die Zeltecke und schon im selben Moment bereute James die Worte, die ihm im Affekt über die Lippen gekommen waren. Es war nicht fair gewesen, Oliver hatte ihm nur helfen wollen und hatte nicht verdient, dass man so mit ihm umsprang. Er war das Ziel aufgestauter Wut geworden. Seufzend senkte James seinen Blick flüchtig zu Boden. Die Lage war zum Verzweifeln. Oliver anzufahren war das Letzte, was er gewollt hatte.

Als er wieder aufschaute, sah er, wie Gruber aus einem der Schlafsäcke her mit hochgezogenen Augenbrauen überrascht zu ihnen hinüber spähte. Auch Murphys Blick huschte kurz unruhig zwischen ihm und Oliver hin und her, da es das erste Mal war, dass dicke Luft zwischen ihnen herrschte. Der Rest der Gruppe hielt sich glücklicherweise draußen vor den Zelten auf. Um sich nicht einzumischen, lenkte Murphy Grubers Aufmerksamkeit von den Zwillingen weg und fuhr das Gespräch fort, das er mit ihm begonnen hatte.

James Zorn war so schnell verflogen, wie er aufgewallt war. Betreten wanderte sein Blick in die Zeltecke, wo Oliver hustend den zur Decke umfunktionierten Schlafsack enger um sich zog und sein Reuegefühl nahm weiter zu. Ohne zu zögern hatte Oliver ihm seine warme Kleidung überlassen und er hatte ihn zum Dank zurecht gestaucht. Zudem realisierte er erst in diesem Moment wirklich, dass er ihn mindestens zweimal vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, wenn nicht sogar dreimal. James entfuhr abermals ein Seufzen, beschämt sah er seinem Bruder dabei zu, wie er sich auf dem Zeltboden niederließ und mit zitternden Fingern an dem Reißverschluss seines Rucksacks herumnestelte.

„Sorry...", bekundete James zögernd und nahm neben ihm auf dem Boden Platz.

Oliver sah von seinem Rucksack auf. „Schon okay", versicherte er und die Ehrlichkeit in seinen Augen machte deutlich, dass es sich nicht bloß um eine dahergesagte Floskel handelte.

„Nein, es war nicht okay", beeilte sich James klarzustellen, dem es aufrichtig Leid tat. „Mir ist gerade einfach eine Sicherung durchgebrannt. Und ich hab's wirklich nicht so gemeint."

„Wir sind alle mit den Nerven am Ende", gab Oliver zurück und gab ihm zu verstehen, dass er es ihm nicht übel genommen hatte.

„Das ist keine Entschuldigung."

„Ich weiß, dass du es nicht mit Absicht getan hast", beteuerte er.

„Nein, habe ich nicht", entgegnete James, womit schließlich alles gesagt war. Mehr Worte gab es darüber nicht zu verlieren. „Danke übrigens für's Retten. Schon wieder...", fügte er hinzu und presste zerknirscht die Lippen zusammen, ehe daraus doch noch ein halbherziges Lächeln wurde.

Oliver neigte leicht den Kopf, hob die Brauen und schenkte ihm einen eindringlichen Blick, aus dem James so vieles lesen konnte. Einerseits das Abwägen, ob er dies tatsächlich ernst meinte, da es eigentlich außer Frage stand, dass er ihm bedingungslos vertrauen konnte und nie befürchten musste, im Stich gelassen zu werden. Andererseits das stumme Verdeutlichen, wie überflüssig sein Dank in dieser Hinsicht war.

„Du glaubst nicht wirklich, dass ich dich hätte erfrieren lassen, oder?", hakte Oliver stirnrunzelnd nach. „Ich hab echt gedacht, das kann nicht wahr sein, als das Eis gebrochen ist und ich dich nicht mehr gesehen habe. Dir immer den Hintern zu retten wird langsam echt stressig", setzte er scherzhaft hinzu.

James grinste augenblicklich. „Der Service deiner Rettungsdienste lässt auch sehr zu wünschen übrig. Ich war ja schon fast ein lebendiger Eisklotz, als du endlich mal in die Gänge gekommen bist."

„Der kluge Geist analysiert zuerst das Problem, bevor er sich ins Chaos stürzt", erklärte Oliver und nickte mit hochgezogenen Brauen, wie um sich selbst zu diesem gelungenen Konter zu gratulieren.

„Aaaah, also wenn ich erfroren wäre und dich später jemand gefragt hätte, warum du nicht geholfen hast, hättest du gesagt 'Tut mir Leid, ich musste zuerst das Problem analysieren'?", vergewisserte sich James belustigt.

„Ja", bestätigte Oliver mit einem breiten Grinsen, was James zum Lachen brachte.


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