Kapitel 2 │Himmel auf Erden

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Sowie sie durch die Hüttentür nach draußen traten, schlug ihnen ein leichter Wind entgegen. Die Sonne stand hoch über ihnen, der Himmel war von seichten Federwolken durchzogen und von wunderschönstem Azurblau. Ein besseres Wanderwetter hätten sie sich nicht wünschen können. Beschwingt schnappten sie sich ihre Rucksäcke und folgten den Anderen nach draußen. Ausnahmslos alle Teilnehmer waren guter Laune und es hing ein Gefühl regelrechter Aufregung in der Luft. Heute war der Tag des Aufbruchs. Vor und neben der Hütte entstanden die ersten Fotos, einige wählten den imposanten Bergzug als Hintergrund für ihr Andenken, einige die hohen Stämme des angrenzenden Waldes, andere die Vorderseite der Hütte und wieder andere die von Bäumen umsäumte Zufahrt.

„Los, wir machen auch Fotos", entschied James, drückte Oliver sein Handy in die Hand und posierte mit ausgestrecktem Daumen und samt Rucksack vor dem Eingangsbereich der Hütte. Schnell drückte dieser auf den Auslöser, ehe ein Vorbeikommender durch den Hintergrund lief und damit das Bild zerstört hätte. Rasch ging James wieder zu ihm und ließ sich das Handy zurückreichen, um das Foto zu betrachten.

„Wie sieht das denn aus?", reagierte er belustigt. „Ich seh aus wie so'n Wahnsinniger aus einer Anstalt."

„Also wie immer", entgegnete Oliver verschmitzt.

„Danke. Da ist ja nur die Hälfte der Veranda drauf. Mach noch eins und diesmal ordentlich."

Oliver hob seufzend die Brauen, verdrehte halb die Augen und bewegte amüsiert den Kopf hin und her, bevor er erneut das Handy hob, um ein zweites Foto zu machen. „Gut, ich gehe wie der Herr es wünscht einen halben Nanometer weiter nach links."

„Das waren mindestens zehn Zentimeter", konterte James, der sich breit lächelnd wieder vor der Hütte aufbaute.

„Red' nicht und grins", forderte Oliver, der erneut auf den Auslöser tippte und diesmal zur Sicherheit gleich mehrere Bilder schoss. Nach kurzer Kontrolle waren die Fotos für gut befunden.

„Kommt, ich mache mal eins von euch beiden zusammen", bot ihnen jemand unerwartet an und als sie sich umdrehten, sahen sie sich Karen, einer der Teilnehmerinnen aus ihrer Gruppe, gegenüber. Ohne groß überlegen zu müssen, nahmen sie das Angebot an, machten ein paar Fotos, erhielten dankend das Handy zurück und revanchierten sich, indem sie auch für sie einige Erinnerungen festhielten. Nachdem sie auch ein Bild mit Alex gemacht hatten, dem es dringend nach einem Foto mit ihnen beiden verlangte und der zu ihnen herübergekommen war, wurden sie auch von Svensson als Weasley-Zwillinge enttarnt, der es nach der gestrigen Gruppeneinteilung und Nennung ihrer Namen gedämmert hatte. Grinsend strahlte die Norwegerin mit ihnen um die Wette, als sie sich zwischen sie stellte.

Zu guter Letzt luden die Zwillinge ein Selfie, sowie eine knappe Videobotschaft auf Instagram hoch, um die Welt wissen zu lassen, wohin es sie verschlagen hatte. Und dann endlich, am späten Vormittag, ging es los. Steele und Hardman traten aus der Hütte und trommelten sie zusammen, dann trennten sich die Gruppen mit dem Abkommen, sich in wenigen Tagen auf dem Rückweg zu treffen.

Über einen sonnenbeschienenen Pfad folgten sie Hardman dem Wanderweg hinein ins Innere des Waldes. Hohe, über vierhundert Jahre alte Kiefern und Pracht-Tannen ragten bis zu siebzig Meter in den Himmel empor. Farn umsäumte ihren Pfad, wucherte über den Waldboden und erstreckte sich so weit das Auge reichte wie ein grünes Meer zwischen den Bäumen. Erst noch kaum merklich, stieg das Gelände nach einiger Zeit stetig an. Sie sahen Bäume, deren Zweige schier um die eigene Achse gedreht waren, außergewöhnliche Arten von Moosen, die sie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatten oder Kleintiere, die auf der Suche nach Nahrung durch das Gestrüpp huschten.

Bald schon erreichten sie die Bergwälder und je höher sie kamen, desto abschüssiger verlief das Gelände. Der Boden wurde steiniger, tiefe Wurzeln verankerten die Bäume im Untergrund, schlugen Bögen, durchdrangen an manchen Stellen die Erdoberfläche und waren dicht bewachsen mit Kräutern, Moosen und Flechten. Canyons prägten die Landschaft und gegen Nachmittag wurde das Gelände merklich steiler. Fast senkrechte Felshänge ragten aus dem Grund heraus, doch nicht nur das Gelände schien anzusteigen, sondern auch die Temperaturen. Die Sonne stand nun so hoch, dass sie zunehmend ins Schwitzen gerieten, was auch dem anspruchsvoller werdendem Gelände zu verschulden war. Schnaufend wischten sie sich mit den Handrücken über die Stirn, sichtbar müde wurde jedoch niemand.

„Wir machen gleich eine Pause!", verkündete Hardman mit einem Ruf, ganz so, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Ist nicht mehr weit!"

Hintereinander wanderten sie die vorübergehend letzte Erhebung hinauf, danach blieb das Gelände einigermaßen konstant. Der Wanderpfad schlängelte sich zwischen den hohen Kiefern hindurch, sie folgten ihm für etwa fünf Minuten, bis sie ein Geräusch vernahmen, dass über das Zwitschern der Vögel hinweg gut zu hören war. Es war ein immer lauter werdendes Rauschen, offenbar gehörte es zu einem fließenden Gewässer und als sie um eine Baumreihe bogen, offenbarte sich ihnen ein überwältigendes Naturschauspiel.

Aus einer riesigen Steilwand, deren oberste Kante sie gerade so mit bloßem Auge erkennen konnten, sprudelten Unmengen an Wasser aus dem Fels heraus und stürzten im freien Fall etwa fünfundzwanzig Meter donnernd in die Tiefe. Beeindruckt näherten sie sich dem Wasserfall, der beim Auftreffen auf den Grund neblige Gischt versprühte. Blitzschnell hatten sie alle ihre Kameras gezückt, um eifrig Bilder von der wunderschönen Landschaft zu machen, was Hardman mit einem Lächeln bedachte.

„Keine Sorge, ihr habt genug Zeit, um so viele Fotos zu machen, wie ihr möchtet. Hier legen wir die erste Rast ein. Esst ein wenig, trinkt ordentlich etwas und genießt in aller Ruhe die Aussicht. Erst in ca. einer halben Stunde gehen wir weiter."

Erleichtert zogen die Teilnehmer ihre Rucksäcke von den Schultern, doch an Essen dachte angesichts dieses außergewöhnlichen Naturspektakels vorerst niemand. Vielmehr suchten sie sich die besten Standorte für Fotos, versuchten so nah wie möglich an die ins Tal donnernden Wassermassen heranzukommen ohne auf rutschigem Moos den Halt zu verlieren und drückten sich abwechselnd die Kameras in die Hand, um auch ja ein Andenken für Zuhause zu bekommen. Murphy, Jones und Sanderson spielten beinahe wie Kinder auf den großen Steinen nahe dem Ufer herum und standen unter den wachsamen Augen von Hardman, der sorgsamst darauf achtete, dass niemand abhanden kam oder sich möglicherweise aus Übermut zu nah an den Wasserfall heranwagte. Mindestens zweimal lotste er Jones mit einem Pfiff und anschließendem Ruf von den glitschigen Felsen weg, auf denen er wagemutig herum balancierte. Auch Oliver und James betrachteten den Wasserfall aus nächster Nähe, bevor sie mithilfe von Alex Fotos davor machten. Erst als die überschwängliche Begeisterung aufgrund der paradiesischen Landschaft etwas nachgelassen hatte, verteilte sich die Gruppe im umliegenden Gras, um ihren Proviant auszupacken.

Die Zwillinge suchten sich einen Platz auf einem der großen Steine ringsum des Ufers, wo sie sich zufrieden über ihre Wegzehrung hermachten. Sicher konnte nicht jeder von sich behaupten, schon einmal ein Pausenbrot vor einem solch einzigartigem Wasserfall gegessen zu haben. Die phänomenale Naturgewalt im Rücken, die wärmende Sonne, die Schatten der Bäume und die grandiose Aussicht, die sie von hier aus in die tieferliegende Schlucht hatten, war gewaltig. Allein für dieses Erlebnis hatte sich die Wandertour bereits gelohnt.

Das beständige Rauschen der herabstürzenden Wassermassen machte sie fast schon ein wenig schläfrig, vom Bedürfnis umgarnt, noch stundenlang an diesem Ort bleiben zu wollen, trat ihnen unweigerlich der Titel eines Liedes aus den Achtzigern in den Sinn. Heaven is a place on Earth - Der Himmel ist ein Platz auf Erden. Es stimmte. Und es bestätigte sich auch, als sie wieder aufbrachen und den Marsch fortsetzten. Die Landschaft war schlichtweg atemberaubend und bot ein traumhaftes Panorama. Sie blickten in tiefe Schluchten und Täler; sahen Wälder, die sich bis zum Horizont erstreckten; Flüsse, die sich durch zerklüftete Landschaft zogen und Abhänge hinunterströmten; Bergwälder, welche die umliegenden Berge wie grüne Teppiche überzogen und schneebedeckte Gipfel, die sich in der Ferne auftaten. Einerseits eine Erinnerung daran, welche Strecke sie noch vor sich hatten, andererseits etwas, für das es sich weiterzulaufen lohnte und ihre Vorfreude immens steigerte.

Während sie die Pfade hochwanderten und noch mehr Höhenmeter zurücklegten, kamen Oliver und James mit Wykoff ins Gespräch, dem 41-jährigem Bodyguard aus Miami, der mehre Gürtel in verschiedenen Kampfsportarten besaß und ihnen sehnsüchtig von seiner Frau und seinen zwei Töchtern erzählte. Stolz berichtete er ihnen von dem neu gekauften Haus, das er mit seiner Familie momentan renovierte und was für ein Glück er gehabt hatte, solch ein tolles Grundstück zu erwerben. Interessiert hörten ihm die Zwillinge zu und freuten sich mit ihm über sein neues Eigenheim und der begeisterten Art, mit der er von seinen Vorhaben berichtete. Ein kleiner Swimmingpool, eine eigene Grillecke und eine lange Hecke, die sich um das ganze Grundstück ziehen würde, das alles waren einzelne Punkte auf seiner Liste, die er abzuarbeiten gedachte. Aus seiner Hosentasche klaubte er ein zusammengefaltetes Foto, das zwei hübsche blonde Mädchen im Teenageralter und eine ebenso blonde athletisch gebaute Dame zeigte - seine Töchter und seine Frau, bei deren Erwähnung er stolz die Brust schwoll. Der Wandertrip durch die Sierra Nevada war ein Geschenk von den dreien gewesen, da sie fanden, dass auch er mal einen Urlaub verdient hatte, da er sich sonst nichts gönnte oder Geld für sich selbst ausgab.


                                                                                ❄❄❄

Gegen 18.30 Uhr endete der erste Wandertag, sie waren glatte sieben Stunden gewandert und als Hardman verkündete, dass sie ihr Nachtlager aufbauen würden, ging ein erleichtertes Seufzen durch die Gruppe. Fix und fertig zogen sie ihre Rucksäcke von den Schultern, deren Gewicht sie trotz ausreichender Polsterung jetzt nur allzu deutlich spürten. Nach der ermüdenden Wanderung auch noch ihre Zelte aufzubauen war nicht gerade dass, wonach ihnen der Sinn stand. Viel lieber hätten sie sich in einem fertigen, bereitgestellten Unterschlupf in ihre Schlafsäcke eingerollt und ihre träge gewordenen Füße hochgelegt. Um die Arbeit kamen sie allerdings nicht herum, also bauten sie rasch die Zelte zusammen und waren froh, es zuvor schon einmal geübt zu haben, denn dies erleichterte es ungemein. Ganz fehlerfrei ging es nicht vonstatten, doch bemühte sich jeder und zeigte guten Willen. Viel mehr war aufgrund mangelnder Erfahrung auch nicht zu erwarten gewesen.

Hardman derweil hatte auf einem kleinen Gaskocher das Abendessen in Form einer Tomatensuppe für sie vorbereitet, die alle hungrig in sich hineinschaufelten. Gesättigt und zufrieden ließen sie sich im Schneidersitz am Rand des Felsplateaus nieder, auf dem sie die Zelte aufgebaut hatten und bewunderten eine Kulisse, die malerischer nicht hätte sein können. Mit einem kräftigen orangefarbenen Glühen sank die Sonne über den Berggipfeln im Westen langsam am zartrosa Abendhimmel, tauchte das ohnehin umwerfend schöne Panorama in ein warmes Licht und machte es somit vollkommen. Es war eines der gewaltigsten Naturschauspiele, das sie jemals zu Gesicht bekommen hatten und war das perfekte Ende eines gelungenen Tages. Ein riesiger Schatten schob sich über Wälder, Hänge, Schluchten, Berge und Täler, bis die Sonne schließlich unter dem Horizont verschwand und die ersten Sterne schwach am Himmel erschienenen.

Die Dämmerung ließ die Temperaturen zu dieser Jahreszeit rasch fallen, fröstelnd huschten sie in ihre Zelte und zogen sich etwas Langärmeliges über. Das Lagerfeuer brannte noch, als es längst dunkel geworden war. Aus den Zelten heraus hörten sie das leise Knistern des Holzes, sowie vereinzelte Rufe eines Uhus. Der Wald war in silbriges Mondlicht gehüllt. Gähnend lag James in seinem warmen Schlafsack und hörte, wie in den umliegenden Zelten die Reißverschlüsse zugezogen wurden. Sich aus einer Thermoskanne heißen Tee einschüttend, blickte er durch ihren noch offenen Zelteingang auf das Feuer, wo Alex noch als einer der letzten mit Timothy Fletcher am Feuer saß und über die Arbeit auf Bohrinseln fachsimpelte.

„Tee?", bot James seinem Bruder an, der soeben ins Zelt eintrat und den Kopf einzog, um den für sie doch recht niedrig bemessenen tunnelartigen Eingang zu passieren.

Oliver stockte kurz, rümpfte perplex die Nase und bedachte ihn mit einem verwirrten Blick.

„Was?", erkundigte sich James, der mit Unschuldsmiene zu ihm aufsah.

Stumm hob Oliver in fragender Geste die Arme. „Wo hast du Tee her?", wollte er wissen.

„Hab ich mir von Karen geschnorrt", verriet James grinsend.

„Ich hab keinen Becher", erklärte Oliver, während er an den Reißverschlüssen des Zeltes herumnestelte, um die Plane ein wenig zu schließen und so den Innenraum vor der kühlen Brise zu schützen, die draußen vorbeizog.

James hob wortlos den Becher in seiner Hand hoch, der nicht viel mehr war als der Deckel der Thermoskanne, den er zweckentfremdet hatte. Erledigt von der langen Wanderung ließ Oliver sich neben ihn auf den ausgerollten Schlafsack fallen und stibitzte ihm den Teebecher aus der Hand.

„Ist die Thermoskanne auch von Karen?"

„Nein, das ist meine."

„Wieso hab ich eigentlich keine?", überlegte Oliver laut und nippte an dem dampfenden Becher Tee.

„Vielleicht bin ich besser vorbereitet als du", zog James ihn auf.

„Die stand aber nicht auf der Packliste, oder?"

„Nein, ich dachte aber sie wäre vielleicht nützlich."

Erneut einen Schluck vom Tee nehmend, bewegte Oliver abwägend den Kopf hin und her, was dann in ein Nicken überging. Die Thermoskanne war für sinnvoll befunden.

„Hättest besser mal auch Tee mitgebracht", holte er zu einem Schlag aus und grinste in den Becher hinein, ehe James ihm selbigen noch in der nächsten Trinkbeweung triumphierend aus der Hand stibitzte.

„Hättest dir besser mal 'nen Becher mitgebracht."

ColdWhere stories live. Discover now