Epilog │Was zurückbleibt

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Ein zögerndes Klopfen an der Zimmertür lenkte Olivers Aufmerksamkeit vom Fenster weg. James trat ein. Für einen Augenblick verharrte er unschlüssig auf der Stelle, ehe er näher ans Bett herantrat. Die Matratze gab ein wenig nach, als er mit Umsicht auf Olivers Beine darauf Platz nahm.

„Und?", erkundigte sich Oliver und sah ihm erwartungsvoll entgegen, doch James antwortete nicht, vielmehr rang er um Fassung. Eine Enge in seiner Kehle verwehrte ihm das Sprechen.

„James?", sprach er ihn nachdrücklich an und sah, wie sich dessen Augen mit Tränen füllten.

Verstehend lehnte Oliver sich ein wenig vor und legte einen Arm um ihn, was James den Kampf gegen die Tränen verlieren ließ. Die aufgestauten Emotionen, die er zurückgehalten hatte, übermannten ihn endgültig, in Gegenwart seines Bruders brauchte er keinen Schein mehr zu wahren. Die ganze Anspannung löste sich mit einem Schlag, als er sich herumwandt, die Arme um ihn schloss und die Finger in seinem Pullover vergrub. Allein die Tatsache, dazu im Stande zu sein, führte ihm vor Augen, welches Glück sie gehabt hatten. Eine Menge unausgesprochener Dinge lagen in dieser Umarmung und als sich ihm das lebhafte Szenario eines Hubschraubers aufzudrängen versuchte, der Olivers steifgefrorene Leiche aus dem Schnee barg, umschloss er diesen umso fester. Die Bergung ihrer ehemaligen Teammitglieder hatte ihn nur allzu sehr daran erinnert, wie kurz davor er gestanden hatte, ihn zu verlieren.

„Ich hab' sie nicht gefunden...", murmelte er zwischen unterdrückten Schluchzern an seiner Schulter.

„Wen hast du nicht gefunden?", wollte Oliver wissen, der das schlimmste Befürchtete und James spürte das Vibrieren seiner Stimme, das sie beide durchlief.

„Steven, Robert und David", brachte er schuldvoll hervor.

Bestürzt schob Oliver ihn ein wenig von sich, um ihm wieder in die Augen sehen zu können.

„James! Du hast acht von elf Personen gefunden- Acht!", wiederholte er bedeutsam. „Wie hättest du noch mehr finden können?", erinnerte er ihn an das riesige Gebiet, das die Suche umgemein erschwert hatte und in dem kaum ein Fleck vom anderen zu unterscheiden war. „Du hast dein bestes gegeben, warst der Einzige, der sich überhaupt dafür bereit erklärt hat und hast mehr getan, als jeder andere von uns. Verlang also nicht zu viel von dir und hör auf, dir Vorwürfe zu machen."

Stockend wischte sich James die Tränen aus dem Gesicht. Er wusste, dass Oliver recht hatte, dennoch machte diese Tatsache die Schuldgefühle nicht völlig zunichte.

„Sie werden bestimmt noch gefunden", warf Oliver ein. „Da bin ich ziemlich sicher."

James antwortete mit einem hoffnungsvollen Nicken, denn es stimmte. Jetzt war alles vorüber. Sie würden nach Hause zurückkehren und doch fragte er sich, wie es weitergehen würde. Noch nie waren sie vorher hautnah mit dem Tod in Berührung gekommen. Von dreiundzwanzig Teilnehmern, die zu der Wanderung aufgebrochen waren, waren nur fünf zurückgekehrt. Siebzehn Männer und Frauen hatten ihr Leben verloren, es würde lange dauern, alles zu verarbeiten und Frieden mit ihnen selbst und dem Unglück zu schließen. Die Frage, wer Schuld daran trug, würde wohl nie geklärt werden und sie waren auch nicht sicher, ob es überhaupt eine Antwort darauf gab. Sicher spielte der plötzliche Wetterumschwung eine Rolle, aber vermutlich auch einzelne Entscheidungen, die getroffen oder auch nicht getroffen worden waren. Die Ursache des Unglücks ergründen zu wollen, hatten sie angesichts der ganzen zu berücksichtigen Faktoren längst aufgegeben.

Ganz im Gegensatz zu der Schar Reportern, die sich kurz nach der Leichenbergung vor den Türen des Krankenhauses eingefunden hatte und sich wie hungrige Wölfe auf sie stürtzte. Erst da wurden ihnen das Ausmaß der Situation wirklich bewusst. Die Journalisten stammten von Zeitungen und Fernsehsendern aus Amerika und Europa, die Ereignisse machten Schlagzeilen, die Presse nahm das Unglück bis ins kleinste Detail auseinander und betrieb eine akribische Fehleranalyse. Rund um die Uhr wimmelte es von Reportern, denen es trotz eines Verbotes immer wieder gelang, sich Zutritt ins Krankenhaus zu verschaffen. Es war schwer, unbekümmert auf den Gängen herumzulaufen oder sich ins Café zu setzen, ohne sofort von ihnen belagert zu werden.

Nachdem er sein Handy zurückerhalten hatte, sah er zudem mehr als fünfzig verpasste Anrufe, die meisten von seinen Eltern, die während der Zeit in den Bergen zu erreichen versucht hatten. Einige aber auch von anderen Verwandten, Freunden und Bekannten, die erst vor kurzem eingegangen waren. Letztere hatten durch Zeitungs-und Fernsehberichte von den Ereignissen in den Bergen und ihrer Beteiligung daran erfahren. Jeder wollte wissen, wie es ihnen ging, was genau passiert war und stellte Fragen, auf die nicht einmal er selbst Antworten hatte. Sie waren keineswegs aufdringlich oder versuchten grausame Einzelheiten aus ihm herauszuquetschen, sondern machten sich große Sorgen. Ganz im Gegensatz zu den sensationslüsternen Journalisten.

Über die nächsten zwei Wochen, die Oliver noch im Krankenhaus verbringen musste, war es kaum möglich, eben jenen aus dem Weg zu gehen. Wann immer James mit oder ohne Begleitung seiner Eltern für einen Besuch vorbeikamen, blitzten Kameras vor seinem Gesicht auf und Reporter drängten einander aus dem Weg, um ein Interview zu bekommen, doch er sprach kein Wort mit ihnen, auch die Anderen nicht und aufgrund spärlicher Informationen reimten sich die Journalisten bald ihre eigene Geschichte zusammen, um sie in ihren Zeitungen abzudrucken. Teils entsprachen sie der Wahrheit, teils nicht, das, was eigentlich auch ohne Übertreibungen bereits dramatisch genug gewesen war, wurde weiter ausgeschmückt und das öffentliche Interesse flaute nur langsam ab. Selbst während eines Trauergottesdienstes zum Gedenken der Verstorbenen hatten sie kaum Ruhe vor ihnen, sie warteten vor den Toren der Kirche und umzingelten sie regelrecht.

In all dieser Zeit lernten sie jedoch auch, sich mit dem Geschehenen abfinden zu müssen und sich in dem all dem Leid auf das Positive zu konzentrieren, denn sie konnten es nicht ändern. Es brachte keinen Seelenfrieden mit sich. Zwar verging kein Tag ohne dass ihre Gedanken von den Erlebnissen in den Bergen beherrscht wurden, doch es wurde leichter, damit umzugehen. Fragen, die sich darum drehten, was geschehen wäre, wenn einzelne Entscheidungen in den Bergen anders ausgefallen wären, jede alternativen Szenarien ließen sie ruhen. Es war nun ein Teil von ihnen, aber sie ließen nicht zu, dass es fortan ihr ganzes Sein bestimmte. Sie hatten überlebt. Und das war genug.

An jedem Tag, an dem die Sonne aufging, empfanden sie zunehmende Dankbarkeit und lernten vieles, was zuvor zur Selbstverständlichkeit geworden war, neu schätzen. Jeder grausame Schritt durch die Wildniss hatte sie hierher zurückgebracht. Der Schatten des Todes, der lange über ihnen gehangen hatte, hatte ihnen allzu deutlich vor Augen geführt, wie kostbar Leben war. Und dieses hatten sie noch vor sich.

ColdWhere stories live. Discover now