Ruhe vor dem Sturm | 5

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„Es wird Tom nicht gefallen", sprach sie ihre Bedenken aus, während sie bewusst ihre Finger voneinander löste und flach auf ihre Oberschenkel legte. „Er wird jeden Stein umdrehen, um nach mir zu suchen."

„Nun", erwiderte Dumbledore mit einem Schulterzucken, „Sie werden weg sein. Er wird Sie niemals finden können." Dann, als wäre ihm plötzlich etwas in den Sinn gekommen, richtete er seinen Blick in die Ferne und strich mehrmals über seinen langen, braunen Bart. Es dauerte mehrere Minuten, in denen außer dem Ticken der magischen Uhren im Büro nichts zu hören war, ehe er weitersprach. „Wird er in der Kammer nach Ihnen suchen?"

Schlagartig wich alles Blut aus Hermines Gesicht. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Selbst wenn er sie persönlich dort nicht finden würde, er würde mit Sicherheit ihr Portrait dort hängen sehen und dann würde er wissen, dass irgendetwas nicht stimmte. Und selbst wenn er es nicht bemerkte, was war mit Harry oder Ron oder sogar Ginny, die ebenfalls alle irgendwann in der Kammer auftauchen würden?

„Können wir mein Bild irgendwie verstecken? Einen Zauber darauf legen, dass nur ich es sehen und finden kann?", schlug sie schließlich nach langem Nachdenken vor.

Für einen langen Moment blieb Dumbledore stumm, dann erhob er sich plötzlich und nickte ihr zu. „Kommen Sie, Miss Granger. Meiner Erfahrung nach denkt es sich besser über Probleme nach, wenn man sie vor Augen hat."

Unwillig, aber resigniert stand Hermine auf und folgte dem Professor zum Gang mit der Absolventen-Galerie. Sie bezweifelte, dass ihnen dort eine bessere Idee kommen würde, doch sie hatte nicht den Elan, mit ihm darüber zu streiten.

***


In Gedanken versunken wanderte Abraxas durch das Schloss. Normalerweise bevorzugte er Spaziergänge an der frischen Luft, wenn er nachdenken wollte, doch die Temperaturen im Januar ließen das gerade nicht zu, ohne einen beständigen Wärmezauber aufrecht erhalten zu müssen. Und so lief er nun ohne Ziel durch die Gänge und Treppen von Hogwarts, ohne wirklich zu sehen, wohin ihn seine Schritte trugen.

Er hatte gehofft, dass der Jahreswechsel ihm einen Neustart ermöglichen würde, doch das war nicht der Fall. Der grausame Angriff auf Hermine, zu dem er unwissentlich beigetragen hatte, nagte noch immer an ihm. Er konnte sehen, dass diese sonst so forsche Hexe in der Nähe von Lestrange stets angespannt war. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und eine kalte Fassade aufrecht zu erhalten, doch er sah, dass sie litt.

Mit einem Seufzen blieb Abraxas stehen und sah sich um. Der Gang nach rechts würde ihn unweigerlich zum Büro des Schulleiters bringen, dort wollte er unter keinen Umständen landen. Der Gang nach links würde am Ende in einer Sackgasse enden, nachdem er mehrmals rechts abgebogen war. Die logische Wahl wäre es, einfach umzukehren und die nächsten Stufen zurück Richtung Kerker zu gehen.

Kopfschüttelnd schlug Abraxas den Gang nach links ein. Seine Gedanken landeten stets in einer Sackgasse, da konnte er genauso gut auch direkt in eine gehen. An den Wänden hingen aufgereiht die vielen, vielen herausragenden Hexen und Zauberer, die Hogwarts in den vergangenen Jahrhunderten hervorgebracht hatte. Sie alle wisperten untereinander, als er an ihnen vorbeiging, blickten ihm besorgt nach, als würden sie seine Anwesenheit nicht schätzen, doch keines der Bilder richtete das Wort an ihn.

Verwundert über das seltsame Verhalten der Gemälde blieb Abraxas stehen. Normalerweise waren die Personen in diesen Bildern stumm und schliefen, oder sie versuchten, die Schüler in Gespräche zu verwickeln. Dass sie hinter vorgehaltener Hand miteinander tuschelten, kam nur selten vor und meistens, wenn ein lebender Schüler etwas angestellt hatte. Aber er hatte ja gar nichts angestellt, oder?

Da drang plötzlich eine etwas lautere Stimme an sein Ohr. War das Hermine, die er am Ende des Ganges um die Ecke reden hörte? Was tat sie ausgerechnet hier? Konnte es sein, dass sie ebenso wie er durch Zufall hier gelandet war? Besser gelaunt schritt er weiter, doch je näher er der Ecke kam, umso deutlicher hörte er noch eine andere Stimme heraus. Die von Professor Dumbledore.

„Der Zauber funktioniert nur bei Muggeln, wie Sie wissen sollten."

Das war definitiv Professor Dumbledore, der dort sprach – doch wieso siezte er plötzlich seine Nichte? Unwohlsein schoss Abraxas die Wirbelsäule hinauf. Ohne darüber nachzudenken, was er da tat, presste er sich an die Mauer direkt bevor der Gang nach links abbog und konzentrierte sich ganz auf die gesprochenen Worte.

„Natürlich weiß ich das. Aber kann man den nicht anpassen? Oder als Grundlage für einen neuen Spruch nehmen? Sie und Flamel haben doch schon einen Zauber für dieses ganze Unternehmen erfunden, was ist jetzt das Problem?"

Überrascht riss Abraxas die Augen auf. Arbeitete Hermine mit Dumbledore und dem berühmten Flamel an einem geheimen Projekt? Und wieso klang ihre Stimme so hart? Wenn er es nicht besser wissen würde, hätte Abraxas gedacht, dass Abneigung aus Hermines Tonfall heraus klang. Mühsam kontrollierte er seine Atmung, um nicht auf sich aufmerksam zu machen.

„Natürlich können wir es versuchen, aber ich weiß nicht, ob es Erfolg haben wird", erklang nun wieder die Stimme von Dumbledore.

Ein frustriertes Stöhnen von Hermine war die Antwort. „Glauben Sie nicht, dass ich diese Idee gehabt hätte? Ich stehe hier, also hat es geklappt, so viel steht doch fest. Egal, was wir tun, es wird klappen. So funktioniert die ganze Sache doch, oder nicht?"

Abraxas wurde von Sekunde zu Sekunde verwirrter. Wovon sprachen die beiden? Wieso sprach Hermine von sich wie von einer anderen Person?

„Sie sind immer noch ein Mensch mit Entscheidungsfreiheit. Jede einzelne Entscheidung, die Sie treffen, ist Ihre eigene und entsteht aus Ihren Werten und dem, was gerade um Sie herum geschieht. Auch in Ihrer Situation ist nichts vorherbestimmt oder determiniert. Sie können immer noch die falschen Entscheidungen treffen."

Mit großen Augen starrte Abraxas an die gegenüberliegende Wand. Vorherbestimmt? Er wusste, dass manche Hexen Wahrsagen sehr ernst nahmen, doch Hermine hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie wenig sie von diesem Fach hielt. Es konnte also nicht darum gehen, dass sie an irgendein ihr vorherbestimmtes Schicksal glaubte und deswegen von ihrem Onkel gerügt wurde. Worum ging es dann?

„Wissen Sie, was ich glaube?" Die Stimme von Hermine klang eiskalt und hart, als sie endlich eine Antwort gab. „Ich glaube, sobald ich eine falsche Entscheidung treffe, höre ich auf zu existieren. Dass ich noch hier bin, bedeutet doch, dass ich bisher alle Entscheidungen korrekt getroffen habe, oder nicht? Also. Meine Entscheidung ist, dass wir den Muggel-Abwehrzauber anpassen und nutzen."

Entsetzt schlug Abraxas sich die Hand über den Mund, um keinen Laut von sich zu geben. Aufhören, zu existieren? Meinte sie das wörtlich? Alles in ihm schrie danach, um die Ecke zu treten und beide Parteien zur Rede zu stellen, doch er ahnte, er würde in dieser Situation keine Antworten bekommen. Schon gar nicht, wenn Dumbledore anwesend war.

Das Rascheln von Dumbledores langem Umhang ließ Abraxas erstarren. Es gab nur einen Weg von diesem Ganz aus – und der führte genau an ihm vorbei. Wenn die beiden jetzt zurück wohin auch immer gingen, würden sie an ihm vorbei kommen. Obwohl sein Wissensdurst noch lange nicht gestellt war, zwang Abraxas sich, auf leisen Sohlen davon zu schleichen. Verfolgt von den Bildern, die ihm unzufrieden nachschauten, machte er einige leise Schritte, ehe er sein Tempo beschleunigte und zusah, die nächste Treppe nach unten zu finden.

Was auch immer zwischen ihr und Dumbledore vor sich ging, er würde Hermine darauf ansprechen. Nicht sofort. Nicht, solange er nicht mehr konkrete Dinge wusste. Er wollte ihr nichts unterstellen, dafür lag ihm zu viel an ihr. Und vor allem wollte er seine Beziehung zu ihr nicht gefährden. Was auch immer Hermines Geheimnis war, es würde nichts an seiner Zuneigung zu ihr ändern. Also wollte er dreifach sicherstellen, dass er sie nicht verletzte, wenn er sie damit konfrontierte. Halbwissen und ein paar belauschte Sätze würden ihn nur wie einen unheimlichen Lauscher wirken lassen.

Er würde herausfinden, was Hermines Geheimnis war, und dann würde er es ihr offenbaren und für sie da sein. Er würde sie bei allem unterstützen, egal, was es war.

Reue III - Vergiss Mein NichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt