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Nachdem Mrs. Reid sich verabschiedet hatte, bat Lucinda einen der Diener, ihr den Karton in die Bibliothek zu tragen. Dort nahm sie jedes Buch heraus und breitete diese auf dem großen Eichentisch aus, der dort für Studien stand. Sie sortierte die Bücher nach Genre: Einen Stapel für die Bücher über Etikette und Konversation – dieser war auch der größte – dann einen Stapel mit Gedichtbänden, einen Stapel über Mode und einen letzten Stapel mit diversen anderen Büchern, die von Geschichte und Philosophie bis hin zu Geographie und tatsächlich auch einem Reisebericht reichten. Sie war sich sicher, dass alle diese Bücher so ausgewählt wurden, dass sie für das zarte Gemüt der Damen geeignet waren.

Lucinda blickte von einem Stapel zum nächsten. Am meisten interessieren würde sie eindeutig der letzte Stapel. Doch wahrscheinlich war es zielführender für einen entspannteren Umgang mit Mrs. Reid, dass sie mit einem Buch über die Etikette begann.

Sie blätterte durch die Bücher durch, wählte eines davon aus und setzte sich damit in den Lesesessel. Sie begann zu lesen und war kurze Zeit später vollkommen in die Zeilen vertieft. Anscheinend hatte sie so konzentriert gelesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, dass Bailian die Bibliothek betreten hatte.

"Hier bist du also!", sagte er und Lucinda schreckte derart hoch, dass ihr das Buch auf den Boden fiel.

"Bailian! Du hast mich aber erschreckt!"

"Das sehe ich", meinte er lachend und hob das Buch auf. "'Etikette - gesellschaftliche Regeln einfach dargelegt' - weshalb liest du so etwas?", fragte Bailian mit einem amüsierten Blick auf den Buchtitel und einer unspezifischen Geste in Richtung der hunderten von anderen Büchern in der Bibliothek, die eher Lucindas Geschmack entsprachen.

"Das ist eine von Mrs. Reids Hausaufgaben. Ebenso wie all die anderen Bücher", erklärte Lucinda und zeigte auf die Bücherstapel auf dem Tisch.

"Das sollst du alles lesen? Mir war ja bewusst gewesen, dass zu einem Unterricht auch entsprechende Lektüre gehört, aber ich hatte nicht erwartet, dass du dir alles im Selbststudium beibringen musst. Dafür habe ich Mrs. Reid nicht angestellt", meinte er stirnrunzelnd.

"Ich bezweifle, dass Mrs. Reid sich an irgendwelche Anweisungen hält, sollten diese ihren eigenen An- und Absichten widersprechen. Ich weiß auch nicht, ob du vorhin mit ihr geredet hast oder worüber du gegebenenfalls mit ihr gesprochen hast – anders mir gegenüber hat sie sich aber nicht verhalten", kommentierte Lucinda mit einem säuerlichen Grinsen und erhob sich.

"Das ist aber nicht sehr damenhaft, den Befehlen eines Lords nicht zu gehorchen", erwiderte Bailian und Lucinda konnte nicht anders, als diese Aussage als dezent provokativ aufzufassen.

"Befehle?", fragte sie deshalb nur mit gehobener Augenbraue.

"Denkst du nicht, dass ab und an einmal ein Machtwort gesprochen werden muss?", wollte Bailian von ihr wissen, ein unergründliches Lächeln auf den Lippen, während er ihr einen kleinen Schritt näher kam.

"Nun, ich denke, das kommt ganz auf die Situation an", erwiderte Lucinda und machte keine Anstalten, mehr Distanz zwischen sich und Bailan zu bringen. Bailian stand so nah vor ihr, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Wieder einmal fielen ihr seine markanten Gesichtszüge auf. Er war einfach unverschämt attraktiv.

Sie wollte eben ihre Hand heben, um mit ihren Fingerspitzen die Kontur seiner Kinnpartie nachzufahren, als er ihr seinen Arm anbot.

"Darf ich bitten? Der Pianist wartet auf uns."

"Der Pianist?" Lucinda musste sich kurz aus ihrer fast hypnotischen Hingabe lösen und ihre Verwirrung abschütteln.

"Ja, der Pianist. Oder möchtest du lieber ohne Musik tanzen?", belustigte sich Bailian ein wenig.

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now