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Als sie das Speisezimmer betrat, fühlte sich Lucinda, als wäre sie eine andere Person. Zuhause hatten sie sich niemals zum Abendessen umgekleidet und nun steckte sie in einer derart pompösen Abendgarderobe, die sie sonst höchstens zu einem Ball ausgewählt hätte. Mia hatte ihr jedoch versichert, dass das Kleid zu diesem Anlass absolut passend wäre und Lucinda hatte sich auf ihre Einschätzung verlassen.

Als sie den Raum betrat, erhob sich Bailian sofort von seinem Platz, um sie zu begrüßen.

"Eine exzellente Wahl", kommentierte er ihr Kleid mit einem raschen Blick und Lucinda freute sich schon über das Kompliment, als er nüchtern hinzufügte: "Mia scheint als Zofe gut gewählt zu sein", als würde er Lucinda nicht zutrauen, eine derartige Wahl selbst zu treffen und Geschmack zu beweisen.

Was Lucinda jedoch am meisten ärgerte, war, dass er mit dieser Einschätzung durchaus Recht behielt – sie hätte das Kleid ohne Mias gutes Zureden ja tatsächlich nicht ausgewählt, sondern zu einem schlichteren Kleid gegriffen, das Mia mit Entsetzen in den Augen als "Tageskleid" abgetan hatte.

Bailian selbst sah ebenfalls äußerst elegant aus. Er hatte einen Frack gewählt und zu gerne hätte Lucinda einmal ihre Finger über den Stoff fahren lassen. Das Kleidungsstück hatte bestimmt ein Vermögen gekostet.

Als sie zu ihrem Platz lief, löste sich ein Diener aus dem Schatten, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte und schob ihr den Stuhl zurecht, während Bailian ihr Gegenüber Platz nahm.

Lucinda ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und kam sich dabei noch kleiner und unbedeutender, ja beinahe verloren vor in all der Größe und Pracht.

Am Tisch wäre gut und gern Platz für zwölf Personen gewesen und Bailian und sie dinierten hier zu zweit. Was für eine Verschwendung!

Und wenn sie ehrlich war, dann empfand sie die Atmosphäre auch mehr als ungemütlich. Etwas unbehaglich rutschte Lucinda auf dem Stuhl hin und her.

Sie warf Bailian einen Blick zu und bemerkte, dass auch er die Situation als unbehaglich empfand. Womöglich war er es auch nicht gewohnt, im Speisesaal seine Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Vielleicht hatte er immer in seinem Büro gespeist oder er ging mittags weg und traf sich mit Bekannten.

Wieder seufzte sie. Sie wusste nichts über Bailians Junggesellenleben und sie wusste auch nicht, was er jetzt von ihr erwartete.

Vielleicht war ihm auch einfach ihre Gesellschaft zuwider.

Verstohlen sah Lucinda sich um. Dezent im Hintergrund standen Bedienstete, die ihnen auf Geheiß des Butlers das Essen reichten und dann wieder am Rande ihres Blickfeldes verschwanden. Und trotzdem war Lucinda nur zu deutlich bewusst, dass sie keine Sekunde alleine waren und jedes Wort, das sie wechselten von aufmerksamen Ohren aufgefangen wurde.

Wie diskret waren die Bediensteten? Sicherlich wurde im Dienstbotenzimmer reichlich getratscht, da war Lucinda sich sicher. Trotzdem wagte sie den ersten Schritt, da ihr durch die Stille noch unbehaglicher zumute wurde.

"Wie lange wohnst du schon in diesem Haus?", fragte sie Bailian und nahm dann einen kleinen Bissen von der Vorspeise, die vorzüglich schmeckte.

Bailian schien aus seinen eigenen Gedanken hochzuschrecken und nur langsam fokussierte sich sein Blick auf Lucinda. Woran er wohl gerade gedacht hatte?

Sein Blick schweifte kurz durch den Raum, als würde er alles zum ersten Mal sehen, bevor er wieder Lucinda ansah.

"Vor etwa zwei Jahren hat mir mein Vater dieses Haus zur Verfügung gestellt, als er dachte, dass ich..." Bailian verstummte und nahm selbst einen Bissen.

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now