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Lucinda saß in aufrechter Haltung auf dem Bett in ihrem Zimmer in ihrem Morgenrock und sah sich um. Ihre wenigen Habseligkeiten und Kleider waren schon längst in Kisten gepackt und nach London in ihr neues Zuhause geschickt worden und somit trat ihr Zimmer merkwürdig leer und kalt hervor. Der Raum, in dem sie tausende Nächte geschlafen hatte, zu tausenden Morgen erwacht war, tausende Gedanken und Wünsche gehabt hatte, war bald nichts weiter als eine Erinnerung.

Sie fröstelte, verschränkte die Arme vor der Brust und ging zum Fenster, sah hinunter auf den Trubel im Hof, die energischen Dienstboten, die in aller Eile die restlichen Vorbereitungen für den großen Tag trafen.

Ihre Hochzeit.

Die letzten zwei Wochen hatte Lucinda rückblickend wie in Trance erlebt. Ihre Verlobung mit Lord Bailian White war in der Londoner Gazette und der lokalen Zeitung bekanntgegeben worden und wie ein Lauffeuer hatte die Neuigkeit sich verbreitet. Lucinda hatte unzählige Verlobungsgeschenke und Glückwünsche erhalten, genauso wie neugierige und neidische Blicke von anderen jungen, unverheirateten Damen.

Dass sie, die einfache Tochter eines Arztes, mit einer verhältnismäßig geringen Mitgift, einen Lord heiraten würde, war nicht nur für sie selbst unverständlich. Die McLocklyns und Bailian selbst jedoch schienen in der Umgebung so beliebt wie nie zuvor und auch ihren eigenen Schwestern war überraschend mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden.

Lucinda schien als einzige zu durchschauen, dass dieses plötzliche Interesse ihrer Bekannten alleine daraus folgte, aus Lucindas neuem Stand einen Vorteil zu ziehen. Diese Sachlage war aber auch ihre einzige Motivation, die Heirat durchzuziehen. Sie wusste, dass es ihre Familie freuen würde und dass ihre Schwestern möglicherweise ein besseres Leben in Aussicht gestellt bekamen. Außerdem könnte sie es nie verantworten, ein Versprechen, das ihr Vater gegeben hatte, zu brechen.

Ihr Blick fiel auf ihr Hochzeitskleid, das an ihrer Schranktür hing und ein nervöses Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus. In nur wenigen Stunden wäre sie nicht mehr Lucinda Rose Thornton, sondern Lady Bailian White. Der Gedanke ließ sie erschauern.

Sie hatte ihren zukünftigen Gatten seit ihrem Treffen bei der Schneiderin vor eineinhalb Wochen nicht mehr gesehen und alleine bei der Vorstellung, dass sie bei ihrem nächsten Treffen heiraten würden, fiel ihr das Atmen schwer. Sie hätte sich gewünscht, vielleicht nur zwei Minuten vorher mit ihm zu reden. Obwohl sie nicht mit Sicherheit wusste, was sie davon hätte erwarten können.

Ein Klopfen war an der Tür zu hören und bevor Lucinda sich ihr zugewandt hatte, trat Mia mit einem verheißungsvollen Lächeln ein. Mia war als Dienstmädchen in Bailians Zuhause in London angestellt und er hatte sie extra aufs Land geholt, damit Lucinda ihr neues Kammermädchen schon vor der Hochzeit kennenlernen konnte. Sie war Lucinda auf Anhieb sympathisch gewesen und sie freute sich, dass sie wenigstens eine Person kennen würde, wenn sie ihr neues Leben antrat.

"Ms Lucinda", grüßte Mia mit einem kleinen Knicks. "Jetzt ist es gleich soweit. Wie fühlen Sie sich?" Während sie sprach, geleitete sie ihre Herrin sanft zum Frisiertisch und platzierte sie vor dem Spiegel.

"Ich bin... aufgeregt", antwortete Lucinda ehrlich und schenkte dem jungen Mädchen hinter ihr ein Lächeln. Mia hatte ihr schon vorher die Haare hochgesteckt und jetzt kontrollierte sie, ob die Nadeln noch so saßen wie gewünscht.

"Wer wäre das nicht!" Mia holte eine Puderdose hervor und gab noch ein wenig Rouge auf Lucindas Wangen, die vor Aufregung ihrer Meinung nach schon rosig genug waren. "Aber Sie können ganz ruhig sein, Miss, Sie brauchen sich vor nichts zu fürchten. Lord White wird sich gut um Sie kümmern." Mia sagte es mit so viel Wärme und Zuversicht, dass Lucinda ihr tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde glaubte.

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now