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Die ganze Nacht hatte Lucinda sich mühsam wach gehalten, hatte auf jede Regung des Patienten geachtet und ihm regelmäßig den Schweiß von der Stirn gewischt. Das Buch hatte sie nach einiger Zeit zur Seite gelegt, weil die Buchstaben bereits vor ihren Augen zu verschwimmen begannen.

Der unerwartete Besucher hatte unruhig geschlafen, sich immer wieder gewälzt und war erst in den frühen Morgenstunden ein wenig ruhiger geworden. Als sie seine Temperatur fühlte, atmete sie erleichtert auf. Anscheinend war das Fieber endlich gebrochen.

Mit vor Erschöpfung bleischweren Gliedern, setzte Lucinda sich wieder in den Sessel, den sie sich für ihre Nachtwache herangezogen hatte und ehe sie sich versah, war sie in einen tiefen Schlummer gefallen.

Nach gefühlt nur wenigen Minuten, spürte sie eine Hand an ihrer Schulter.

"Lucinda, Liebes." Ihr Vater lächelte sie ruhig an, als sie langsam wach wurde. Ihr Rücken und Nacken schmerzten und sie spürte die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen hinter ihrer Stirn. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und sah, dass die Sonne höher stand als erwartet. Sie musste mindestens zwei Stunden geschlafen haben.

Ihr Blick schweifte zum Fremden im Bett, der immer noch auf dem Rücken lag und ruhig schlief.

"Wie erging es ihm heute Nacht?", flüsterte ihr Vater. Lucinda stand mühsam auf und ging mit ihrem Vater vor die Tür, um vor ihrem Patienten nicht über sein Befinden sprechen zu müssen.

"Er war sehr unruhig. Ich habe aber zwei Tassen Tee und eine Schüssel Suppe in ihn zwingen können."

"Sehr gut." Ihr Vater nickte erfreut. "Du solltest auch etwas essen, Tochter. Wir müssen uns auch heute gut um ihn kümmern."

Lucinda nickte und rieb sich die Augen. Sie verspürte plötzlich einen immensen Hunger.

"George hat heute Früh ein Pferd in unmittelbarer Nähe des Hauses gefunden und mit in unseren Stall genommen. Kannst du dich noch erinnern, wie das Pferd des Herrn aussah?"

Sie nickte. "Ich meine mich zu entsinnen, dass es schwarz war."

"Dann ist das sein Hengst. Die Stallknechte kümmern sich um ihn."

Wieder nickte sie. Ihr Vater lächelte ihr noch einmal zu, dann begab er sich in das Zimmer des Kranken und sie ging in die Küche. Ihre Mutter hatte die Suppe von gestern aufgewärmt und frisch gebackenes Brot war auf dem Küchentisch abgelegt worden.

"Lucinda, wie siehst du denn aus?", tadelte Mrs Thornton, kaum dass Lucinda sich eine Schüssel genommen und zum Topf gegangen war, wo sie sich etwas von der heißen Brühe eingoss. "Du vertust dir alle Möglichkeiten, einen geeigneten Ehemann zu finden. Stell dir vor, Lady Hunt würde unangemeldet zum Tee mit ihrem Bruder erscheinen und er würde dich in dieser Aufmachung sehen. Nie im Leben würde er zu einer Heirat mit dir gewillt sein!"

"Mutter, wie oft denn noch? Lord Hunt, sein Ansehen und sein Vermögen sind mir egal. Selbst wenn er an mir Interesse zeigen sollte, werde ich ihn nicht heiraten."

Sie setzte sich an den Tisch, nahm sich ein Brot und begann zu essen. Sie hoffte, dass die Diskussion, die sie schon zigmal mit ihrer Mutter geführt hatte, beendet war. Sie würde sich nach dem Frühstück frisch machen, aber sicherlich nicht, um eventuell Lord Hunt zu gefallen.

Mit dreiundzwanzig noch nicht verheiratet zu sein, kam einer sozialen Katastrophe mit verheerendem Ausmaß gleich, welches ihre Mutter Lucinda nie vergessen ließ. Sie beschämte ihre Eltern und ihren Bruder und zerstörte die Aussichten ihrer jüngeren Schwestern, eine gute Partie zu machen.

Aber nach der durchwachten Nacht war Lucinda einfach zu erschöpft, um sich ihrer Mutter entschlossener in den Weg zu stellen. Während sie einen Löffel nach dem anderen zu sich nahm und die Wärme genoss, die sich dadurch in ihrem Inneren ausbreitete, ließ sie ihre Mutter leise hinter sich am Herd weiter zetern.

Lucinda RoseWhere stories live. Discover now