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Bis zum Abendessen hatte Lucinda alles erledigt, was sie hatte erledigen wollen. Ihre Zofe hatte ihr die Haare vor dem Kamin gekämmt, bis diese trocken waren und dann kunstvoll hochgesteckt. Lucinda hatte sich extra hübsch machen wollen, sie wollte Bailian zeigen, dass sie sich Mühe gab, sich in diesem Leben zurechtzufinden und dass sie bereit war, ihm entgegenzukommen, so wie sie es auch von ihm erwartete und erhoffte.

Der Gong der Standuhr zeigte ihr, dass sie sich tatsächlich ein wenig vertrödelt hatte und bereits spät dran war.

Als sie mit eiligen Schritten nach unten lief, kam ihr soeben Winston entgegen, der sich bei ihrem Anblick verbeugte.

"Mylady."

"Winston! Wissen Sie, ob Lord White bereits im Salon wartet?"

"Nein, Mylady, Mylord ist noch nicht zurückgekehrt."

"Oh." Lucinda versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht allzu sehr anmerken zu lassen und setzte ein kleines Lächeln auf. "Danke, Winston. Dann werde ich mit dem Essen noch ein wenig warten."

"Sehr wohl, Mylady."

Lucinda ging nun in gemächlicherem Tempo weiter zum Salon, in dem bereits ein Diener wartete, um ihr den Stuhl zurechtzurücken, aber Lucinda winkte ab.

"Danke, ich möchte mich noch nicht setzen." In ihren Gliedern herrschte eine Unruhe, die sie durch den Raum ans Fenster trieb. Ihr Blick schweifte nach draußen, aber dort war außer dem leeren Garten, der langsam in Dunkelheit versank, nicht viel zu sehen.

Nicht sehr ladylike setzte sie sich auf das Fensterbrett und sah ihrem Atem dabei zu, wie er kräuselnde Spuren auf der kalten Glasscheibe hinterließ.

Ihre Gedanken schweiften ab, trieben sie hierhin und dorthin, bis die Tür zum Salon sich plötzlich öffnete.

Sofort sprang Lucinda auf, da sie mit Bailian rechnete, doch es war Winston.

"Mylady, Mrs. Brown möchte gerne wissen, ob das Dinner noch benötigt wird."

"Ich möchte noch auf Mylord warten, wenn es ihr keine zu großen Umstände bereitet."

Winston hüstelte. "Mylady, wenn mir die Bemerkung gestattet ist, ich gehe davon aus, dass Mylord bereits auswärts zu Abend gegessen hat."

"Auswärts? Oh. Wie spät ist es denn inzwischen?" Lucinda hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

"Nach acht, Mylady." Acht Uhr? Dann hatte sie bereits über eine Stunde auf Bailian gewartet!

Die vertraute Mischung aus Wut und Frustration machte sich in ihr breit. Sie atmete einmal tief durch.

"Dann lassen Sie das Essen bitte für mich auftragen, Winston. Und sofern Mrs. Brown ausreichend Pie gemacht hat, darf sich gerne die gesamte Dienerschaft daran gütlich tun."

"Sie sind sehr gütig, Mylady", bedankte sich Winston und wollte den Raum verlassen, als Lucinda ihn noch einmal ansprach.

"Ach, und Winston? Bitte bringen Sie eine Flasche von Lord Whites bestem Wein."

Bei dieser Anweisung schien der Butler kurz unsicher zu zögern, setzte aber sofort wieder seine professionelle, undurchschaubare Maske auf. "Wie Sie wünschen, Mylady."

Wenn Bailian es weder für nötig hielt, sie mit seiner Anwesenheit zu beehren noch auch nur eine kleine Nachricht zu schicken, dann würde sie sich die Leere dieses riesigen Zimmers eben schöntrinken.

***

Etwa zwei Stunden später war sich Lucinda nicht mehr ganz sicher, ob diese Idee wirklich so gut gewesen war.

Lucinda RoseDonde viven las historias. Descúbrelo ahora