Ivar: Keine Freunde

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Ivar hatte keine Freunde.

Sicher, Ivar hatte 4 Brüder, aber wahre Freunde hatte er keine.

Und ein Bruder war auch nicht immer gleich als ein Freund anzusehen.

In Hvitserk hatte er lange Zeit einen Freund vermutet, doch seit er seine Meinung immer rasanter änderte und mal auf Ubbes, mal auf Björns und dann wieder auf seiner Seite war, konnte Ivar sich sicher sein, dass man ihm nicht unbedingt trauen sollte.

Ubbe und Björn behandelten Ivar wie den kleinen Krüppeljungen, der er nun einmal auch war, und ließen ihn zudem noch täglich spüren, was es bedeutete, nicht laufen zu können. Und von Sigurd musste Ivar gar nicht erst anfangen. Er hasste ihn sowieso sehr innig, was allerdings auch auf Gegenseitigkeit beruhte.

Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind Kattegats hatten vor Ivar Angst. Angst vor seiner Art, seiner Ausraster, seiner Lust am Töten und vor allem vor seiner Unberechenbarkeit. Niemand kam ihm näher als drei Schritte und mittlerweile hatte Ivar sich damit abgefunden. Ihm war klar, dass er auf Lebzeiten vermutlich keine Freunde haben würde und ihn niemand wahrhaftig lieben konnte. Doch wer brauchte schon Liebe, wenn es Hass gab. Hass war so viel stärker als Liebe, viel aussagekräftiger und zerstörerischer. Ivar liebte den Hass.

Umso erstaunter war er, als er Gia vor einigen Jahren kennengelernt hatte und sie weder vor ihm zurückgeschreckt war, noch ihn mit ihren Augen abschätzig gemustert hatte.

Als einfaches Bauernmädchen ohne Land oder Nahrung war sie nach Kattegat gekommen um bei seinem Vater auf Knien um eine Ausbildung zur Schildmaid zu betteln. Er hatte ihr diesen Wunsch gewährt und heute zählte Gia zu den bedeutendsten Schildmaiden, die Kattegat je hervor gebracht hatte.

Gia war zu Anfang natürlich ebenfalls kein Freund von Ivar gewesen, doch sie hatte ihm wenigstens das Gefühl gegeben, normal zu sein. Sehr normal. Fast schon unauffällig normal. Eigentlich hatte sie ihm das Gefühl gegeben, gänzlich unbedeutend zu sein. Quasi nicht existent in ihrer Welt.

Und so sehr er ihre Art, ihn nicht angewidert an zuzusehen, auch geschätzt hatte, so sehr hatte er diese Eigenschaft auch am meisten an ihr gehasst.

Sie hatte ihm keinerlei Beachtung geschenkt, hatte ihn stets links liegen lassen und noch nicht mal beim vorbeigehen gemustert.

Doch Gia hatte nie jemanden gemustert. Weder seine Brüder, noch einen anderen Bewohner Kattegats. Es war ihr schlichtweg egal, was um sie herum geschah. Alles war ihr wichtig gewesen war, waren Raubzüge und Kämpfe mit anderen abscheulichen Kulturen und ihren Gottheiten. Gia hatte den Tod regelrecht angehimmelt. Sie hätte sich sofort als Opfergabe für Odin oder Freya angeboten, wenn man es ihr nicht schon vor langer Zeit verboten hätte, weil sie eine so gute Kämpferin war.

Doch Gias Art kam nicht von ungefähr. Sie hatte bereits alles in ihren jungen Jahren verloren. Ihren Vater im Kampf, ihre Mutter bei einem Überfall, ihre Schwester an einer Krankheit, ihren Bruder in einem Feuer und sogar ihre Hausziege bei einem starken Unwetter.

Das arme Bauernmädchen von damals hatte Geheimnisse mit sich getragen, die sie Ragnar vor ihrer Zulassung zur Schildmaidenausbildung niemals anvertraut hatte.

Nur Ivar wusste mittlerweile gut über sie Bescheid.

Wie gesagt, Ivar hatte keine Freunde, aber dieser eine Abend im Mondschein am Steg mit unzähligen Bechern von Met hatte die Verbindung zu diesem Mädchen drastisch verändert und noch heute dachte er gerne daran zurück.


Es war ein kühler Sommerabend. Hinter den Wikingern lag eine große Schlacht um Kattegat und alle Sieger feierten ausgiebig in der großen Halle.

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