6 - Von Aussperrungen und der merkwürdigen Begegnung

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ᗩuf meinen Nachhauseweg fing es unverhofft an zu regnen. Und das so stark, dass die Tropfen meine Jeansjacke in ein dunkles Blau tränkten und aus meinen Haaren schon kleine Wassertropfen herab fielen.

Ich liebte Regen, aber im Winter erwartete ich wirklich Schnee und keinen Regen. Das war ziemlich untypisch für Maine.

Um mich herum war wie so oft keine Menschenseele, die paar Häuser, die in diesem Teil der Stadt so wenige waren, wirkten herrisch und kahl und vor mir floss von einer Überdachung das Wasser in einem langen, unterbrochenen Strahl.

Seufzend senkte ich meinen Kopf und blickte auf meine Füße, umhüllt von schwarzen Doc Martens, die einer Pfütze wie von selbst auswichen.

Unwillkürlich kreisten meine Gedanken wieder um Noah und ich stellte mir die verrücktesten Situationen vor, wie wir am Ende doch noch zusammen glücklich werden konnten. Der Regen und die Musik in meinen Ohren machten mich jedes mal aufs neue so nachdenklich, dass ich das Gefühl hatte, in einer Dramaserie für Teenager mitzuspielen.

Ihr wisst schon; diese Art von Mädchen, die auf den heißesten Typen der Schule standen, schein-depressiv im Bus den Kopf an die Fensterscheibe legten und im Regen ohne Kapuze mit einem tiefgründigen Lied nachhause liefen. Und egal wie man es drehte und wendete, am Ende der Geschichte wurden sie immer ein Paar. Gut, den Teil der Geschichte könnte man in meinem Fall weglassen.

Als ich an meinem Zuhause ankam, verwarf ich mein ganzes Kopfkino wieder, als hätte ich Sorge, dass jemand meine Gedanken sehen könnte. Ich nahm meinen dunkelgrünen Rucksack ab, um nach meinem Haustürschlüssel zu kramen, aber es kam, wie es kommen musste. Ausgerechnet heute musste ich ihn vergessen haben.

Also betätigte ich die Klingel, nur um mir Sekundenn später die Beschwerden von meiner Mutter "Wofür hast du einen Schlüssel?" anhören zu müssen. Das dachte ich jedenfalls, aber niemand öffnete die Tür, auch nicht, als ich noch einmal klingelte. Fantastisch. Ich war aus meinem eigenen Haus ausgesperrt und hatte keinen blassen Schimmer, wann meine Familie nachhause kommen würde, geschweige denn, wo sie steckte.

Noch einmal seufzend setzte ich mich auf die Treppenstufen vor unserem Haus und schaute dem Regen zu, wie er Stück für Stück immer mehr die Straße und auch mich selbst durchnässte. Mir war es egal, ob ich im Regen saß. Ich war sowieso schon nass und vielleicht spülte der Regen ja ein kleines Stückchen von meinen Problemen weg.

Ich zog mein Handy aus meiner Jackentasche und wollte gerade das Lied wechseln, bevor etwas anderes meine Aufmerksamkeit weckte.

Instagram
Noah Mitchell (@NoahMi) möchte dir folgen.

Mein Herz setzte für einen Moment aus. Ich las mir diese Nachricht immer wieder durch und je länger ich das machte, desto mehr nahm mein Grinsen zu. Eigentlich hatte ich das mit dem 'Probleme wegspülen' gar nicht so wörtlich gemeint.

Nachdem ich noch eine Minute gewartet hatte, damit ich nicht wie ein Stalker oder Handysuchti wirkte, der direkt Anfragen annahm, akzeptierte ich sie. Bevor ich es mir auch nur überlegen konnte, drückte mein Daumen den 'auch folgen' Button. Die Musik in meinem Ohr wechselte.

Möglicherweise hatte Noah mich doch noch nicht als total bescheuert abgestempelt. Schon alleine diese Annahme reichte aus, dass ich diesen Tag als positiv in Erinnerung behalten und auf meinem imaginären Kalender rot anstreichen würde.

Ich fragte mich allerdings nur eins: Was hatte ihn dazu veranlasst, sich die Mühe zu machen, ganz Instagram abzugrasen? Wieso wollte er mir folgen? War das heutzutage so etwas wie eine hochmoderne, digitale Erklärung, dass eine Person Interesse an dir zeigte? Für einen kurzen Moment kam in mir der Gedanke, dass Noah das Gedicht vielleicht geschrieben hatte.

''So ein Unsinn" rief ich mir selbst wieder und Gedächtnis. Warum sollte sich ein Junge wie Noah einem Mädchen wie mir widmen. Wir kannten uns schließlich nicht einmal wirklich. Deshalb blieb ich lieber bei meiner deutlich realistischeren Vermutung, dass alles nur ein schlechter Scherz war und in Wirklichkeit ein Freshman diesen Zettel in meinen Spind geschoben hatte. Ein Freshman, unwissend darüber, was für einen Sturm solch eine Kleinigkeit in mir auslösen konnte.

Ich versuchte, meine vom Regen plattschnassen und verwüsteten Haare zu bändigen, obwohl sie sowieso niemand zu Gesicht bekommen würde. Die lauten Tropfen prasselten auf die Dächer nieder, sodass man glatt meinen könnte, sie wollten es zu Boden drücken.

Die Stimme, die aus meinen Kopfhörer drang, wurde lauter: "Are we too deep in the night to see the day?
Can we recover? Can we get over this? Are we too frozen inside to feel the flame?"

Ich liebte die Musik von Ruelle. In manchen Augenblicken brauchte ich etwas, das mich fühlen ließ, als wäre ich in einem epischen Kampf, der in die Ewigkeit eingehen sollte, doch an Tagen wie heute beruhigten mich ihre Songs so sehr. Sie tauschte all das Chaos, das wie eine Sturmflut in mir wütete, durch eine friedliche Ruhe aus, die meinen Körper von dort an bestimmte.

Während sich meine Musik mit dem immer noch anhaltenden Schauer vermischte, gesellte sich das Klatschen von Schuhen auf nassem Asphalt zu meiner Geräuschkulisse hinzu. Wer würde sich denn bei diesem Wetter - mit Ausnahme von mir - draußen aufhalten ? Wenige Sekunden später wurde mir meine Frage beantwortet, da ich ein mir mittlerweile bekanntes Gesicht um die Ecke joggen sah.

Josh. Ausgerechnet jetzt musste dieser Josh hier sein, nachdem wir doch eine sehr intime Liebesszene gespielt haben. Ich rutschte auf der Treppenstufen immer weiter nach unten und machte mich klein, weil ich das Bedürfnis hatte, vor Scham im Boden zu versinken. Wie konnte es sein, dass eine Person, die ich bis vor kurzem noch gar nicht kannte, es schaffte, mich in Verlegenheit zu bringen? Und als er kurz vor meinem Haus war und ich schon erleichtert aufatmete, weil er mich nicht gesehen hatte, zog mir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung.

"Oh, hi...Ever, richtig?", fragte er und blieb stehen.
Ich sah auf und nickte langsam.

"Ich...ich wollte nur sagen, dass das gestern echt cool war, was du da auf der Bühne gesagt hast. Ich konnte kaum glauben, dass man so etwas improvisieren kann."

Ich wurde rot. "Naja", ich zuckte mit den Schultern, "ich bin wirklich froh, dass du mitgemacht hast. Andernfalls wäre das wahrscheinlich nicht so gut ausgegangen."

Er lächelte. "Das hat auch echt Spaß gemacht."

"Hat es", stimmte ich ihm zu und meinte es genauso, wie ich es sagte.

"Dann...wir sehen uns", sagte er, bevor eine peinliche Stille auftreten konnte und zeigte auf den Asphalt. Ich nickte nur, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen.

Josh setzte sich schon wieder in Bewegung, als er nochmal zurück blickte und mich fragend ansah.

"Warum sitzt du da eigentlich im Regen?"

"Vietnamesische Meditation für eine Bereicherung des Körpers und Geistes", antwortete ich komplett ernst mit einem selbstverständlichen Nicken.

Er schmunzelte, fragte aber nicht weiter nach und lief weiter. Ich sah ihm nach, bis das Nachbarhaus meine Sicht versperrte und mir schließlich wieder auffiel, wie kalt mir eigentlich war.

Ich entspannte meine Muskeln wieder, wobei ich vorher nicht einmal bemerkt hatte, dass sie angespannt waren. Das war unangenehm. Aber es hätte schlimmer kommen können, muntere ich mich auf.

Ich schrieb meiner Mutter eine Nachricht, in der ich fragte, wann sie wieder da wären, allerdings wurde sie nicht zugestellt. Wunderbar.

May wohnte am anderen Ende der Stadt. Zu Fuß würde es mindestens eine Stunde dauern, bis ich bei ihr ankam und ehrlich gesagt wollte ich mich auch gar nicht mutterseelenallein durch dunkele Gassen treiben. Wer weiß, welche Menschen diesen Schauer für kriminelle Machenschaffen nutzen. Somit blieb nur noch warten und hoffen, dass ich morgen nicht krank werden würde.

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