15 - Von Verschwörungstheorien und der Mitteilung

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"Und mit diesem Abschluss können wir für die heutige Stunde einen Schlussstrich setzen. Vielen Dank für eure Mitarbeit, einen schönen Tag euch noch."

Eilig packte ich meine Sachen ein und drängelte mich durch die Gänge, um den Englischunterricht schnell hinter mir zu lassen. Normalerweise mochte ich Englisch, aber ich wusste nicht, warum man in Zeiten von Donald Trump noch über die Präsidentschaftswahlen sprechen musste. Es war ganz offensichtlich, dass da etwas gewaltig schiefgelaufen sein musste.

Als ich gerade um die Ecke lief, die mich von der Pausenhalle trennte, stieß ich beinahe mit einem Noah zusammen.

Und das Mädchen neben ihm war kein geringeres als May. Wir sahen uns emotionslos in die Augen, während Noah stur an mir vorbei starrte. Es gab sowieso nichts mehr zu sagen.

Ich brach den Blickkontakt, drängelte mich an den Beiden vorbei und versuchte, mir das schlappe Gefühl in meinen Knochen nicht anmerken zu lassen.
Auf keinen Fall würde ich irgendwem die Genugtuung geben, mich um einen Jungen nachtrauern zu sehen, der mir von vornherein keine Chance gegeben hatte, und ein Mädchen zu vermissen, dass mich dieses Schuljahr komplett verarscht hatte, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen.

Das war es mir nicht wert. Ich konnte meine Gefühle zu den Beiden zwar nicht wie eine Glühbirne ausknipsen, aber sehr wohl ignorieren und das versuchte ich nun so gut es ging.

Ich hatte mich langsam nämlich an die neuen Umstände gewöhnt, obwohl es noch keine ganze Woche her war.

Es war nicht so, als würde mich das alles nicht mehr mitnehmen. Der einzige Grund, warum ich damit klar kam, war, dass ich meine Perspektive geändert hatte.

Denn egal, in welcher Lage man steckte:
Man war immer für sich selbst verantwortlich und konnte darüber bestimmen, was man aus ihr machte.

Ich versuchte mir einzureden, dass alles einen Grund haben musste. Wie mit dem Regen Blumen wachsen konnten, hatten auch jeder Schmerz seinen rechten Platz und machten uns zu dem, was wir waren.

Außerdem hatte ich diesen einen Spruch gesehen, der mir einen total neuen Blickwinkel gab:
Vom Mond aus betrachtet spielte das Ganze gar keine so große Rolle mehr.

Denn es stimmte, es gab tausende Menschen mit tausend größeren Problemen, die gelöst werden mussten und jedes einzelne bereitete uns vielleicht auf etwas viel größeres vor. Vielleicht war das alles auch nur ein Spiel, eine Vorstufe, und nach dem Leben begann die wahre Existenz.

Das Leben war temporär, nicht unendlich.

Und am Ende lebte jeder für sich allein und das Universum scherte es einen Dreck.

Endlich war ich an dem Tisch angekommen, an dem Jayda saß.

"Bereit für Drama?", fragte mich die Dunkelhaarige an Stelle einer Begrüßung.

"Und wie!"

Mrs. Rosewood hatte die letzte Stunde gesagt, dass sie uns heute eine wichtige Mitteilung machen musste, weshalb ich noch aufgeregter war als sonst.

Neben Jayda bemerkte ich Cera, ein erdbeerblondes Mädchen, das mit uns im Kurs war. Wir hatten allerdings zuvor noch nie miteinander geredet, weshalb wir uns nur freundlich anlächelte.
Gott allein wusste, wie und wann Jayda immer so viele Leute kennenlernte.

"Was glaubt ihr, was will Mrs. Rosewood uns mitteilen?", fragte Jayda in die Runde.

"Keine Ahnung. Vielleicht ist sie schwanger?", scherzte Cera.

"Hm, das stufe ich als unrealistisch ein, wenn man ihr fortgeschrittenes Alter betrachtet", überlegte Jayda.

"Wahrscheinlich möchte sie uns einfach nur darüber informieren, dass wir mit den eigentlichen Proben anfangen."

"Oh ja, hoffentlich. Wenn ich mir die Seitenzahl des Skripts angucke, sollten wir das. Ich würde mich jedenfalls freuen", steuerte ich Jayda bei.

Jayda lachte: "Jajaja, du willst ja nur die ganzen Knutschszenen mit Josh und Noah proben."

Empört schaute ich sie an, musste aber auch lachen.
"Mhhhm, klar doch."

Als ich daran dachte, dass ich die Beiden wirklich küssen musste, wurde mir plötzlich ganz flau im Magen. Wegen Noah hatte ich meine beste Freundin verloren. Und in Joshs Wagen war ich schon öfter gewesen, als wir öffentliche Gespräche miteinander hatten.

Meine Unsicherheit überspielte ich mit einem Räuspern und stattdessen hörte ich mir weiterhin Verschörungstheorien über Mrs. Rosewood an, die mir jedes Mal wieder ein herzliches Lachen entlockten.

-

Nach dem Ende der Pause gingen wir in Richtung des Theaterraumes, aber nichts, ohne vorher nochmal einen Abstecher zu unseren Schließfächern zu machen.

Ich drehte am Zahlenschloss und öffnete die Tür.
Reflexartig schaute ich nach einem kleinen, gefalteten Zettel. Aber natürlich war keiner da. Was hatte ich mir auch gedacht? Dass May trotz allem weiter machen würde? Natürlich nicht, das wollte ich selbst ja auch nicht.

Ein wenig in Nostalgie schwimmend machte ich mich mit dem Ordner unter meinem Arm geklemmt endgültig auf den Weg zum Theaterraum.

Dort angekommen schlossen wir hastig die Tür und brauchten einen Moment, um uns an das abgedunkelte Licht zu gewöhnen.

Ich liebte die Atmosphäre, die hier herrschte.
Von dem Geruch des frischen Holzes bis hin zu den weichen, mit rotem Stoff bezogenen Stühlen, fühlte sich hier alles nach einem Heimatsort an.

Alle Personen, bis auf wir drei, saßen schon auf den Sitzen. Schnell setzten wir uns nebeneinander in die zweite Reihe uns warteten, bis Mrs. Rosewood ihre Unterlagen fertig durchblättert hatte.

"Hallo, ihr Lieben", setzte sie schließlich an und setzte sich locker auf den Rand der Bühne.

"Ich hatte euch schon letzte Woche angekündigt, dass ich euch heute eine Mitteilung machen muss. Durch die letzten Trainingsstunden, habe ich gemerkt, dass ihr wirklich ein guter Kurs seid. Ihr geht mit viel Motivation, Talent und Leidenschaft an meine gestellten Aufgaben heran und habt Spaß an dem, was ihr macht. Es freut mich wirklich sehr, das zu sehen. Das Einzige, was euch noch fehlt, um gute Schauspieler zu werden, ist einander.

Ja, ihr habt richtig gehört. Ihr könnt nur gut mit den Charakteren und der Storyline agieren, wenn ihr auch miteinander agieren könnt. Ich bin froh, dass hier so eine entspannte Arbeitsatmosphäre herrscht, aber diese hat deutliches Potenzial! Das habe ich das erste Mal bei euren Gruppenarbeitsphasen bemerkt.

Euch viel es schwer, aufeinander zu zu gehen, da ihr euch untereinander noch gar nicht wirklich kennt.
Ich habe mit unserer Schuldirektorin Mrs. Garcia gesprochen, um zu überlegen, wie wir das ändern können. Unserer Schule hängt schließlich sehr viel an den Theateraufführungen.

Nach langer, gründlicher Überlegungen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass wir zusammen eine einwöchige Kursfahrt unternehmen werden!
Und zwar geht es nach New York City!"

Wie aus einer Trance gerissen wechselten Jayda und ich aufgeregt Blicke. New York? Wow!
Es war schon immer mal ein Traum von mir, die ganz großen Städte zu besichtigen.

Auch bei den anderen war die Freude groß:
Während sich mache nur mit großen Augen ungläubig ansahen, stießen andere Freudenschreie von sich.

Klar, New York City war von Bar Harbor noch so nah, dass man bequem mit dem Bus fahren konnte, aber dennoch war es etwas besonderes, da ich noch nie in dieser Stadt geschweige denn überhaupt dem Staat gewesen war.

Früher waren Mom, Dad, Jill und ich immer irgendwo hingefahren, wo es Meer gab, jedoch war ich noch nie aus der USA herausgekommen.

Aber ich wollte die Welt sehen. Karneval in Brasilien feiern, die Polarlichter Islands bewundern, an den Küsten Griechenlands liegen, jede einzelnen Brücke Vietnams überqueren und die Wildnis Afrikas erforschen. Frei wie der Wind jeden einzelnen Winkel unserer Welt erkunden.

Die Welt rief mich und ich war bereit, mich in ihr zu verlieren.

For EverWhere stories live. Discover now