Alle Jahre wieder

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Als Stephanie erwachte, erinnerte sie Jeremys Arm über ihrer Schulter auf angenehme Art und Weise daran, dass sie die Nacht nicht im Wald verbracht hatte. Es waren die kleinen Dinge, die sie im letzten Jahr zu schätzen gelernt hatte. Ein gutes Buch, eine Tasse Tee, einen menschlichen Körper. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, die bereits direkt durch das Fenster über Jeremys Bett schien, hatten sie das angemessene Zeitfenster zum Aufstehen längst verpasst. Normalerweise hätte ihr das nicht viel ausgemacht, doch sie wollte Jeremys Familie jetzt nicht noch mehr auf die Füße treten. Das reine, weiße Licht ließ seine Zeichnungen in schwarzer Kohle beinahe aus dem Papier heraustreten. Sie strich mit ihrer Hand vorsichtig über Jeremys Haut. An seinem Unterarm vollzogen ihre Fingerspitzen das komplexe Muster aus kleinen Narben nach, das sich dort nun bereits seit beinahe zwei Jahren befand. Die Zeit heilte Wunden, jedoch keine Narben.

„Jeremy." Flüstere sie. Jeremy gab zur Antwort ein gedämpftes „Mhmh." Von sich. Wie lange es wohl dauern würde, bis er... „Oh Gott, wie spät ist es?" Er richtete sich auf und sah sich entgeistert im Raum um. Etwa drei Sekunden. Nicht schlecht. Stephanie sah grinsend zu ihm auf. Er warf ihr einen mürrischen Blick zu. „Wir haben keinen Wecker gestellt." Sie lachte. „Wer stellt sich an Weihnachten einen Wecker?" „Meine Familie." Erwiderte er schulterzuckend. „Meine Familie hat vor zwei Jahren vergessen, einen Tannenbaum zu besorgen." Jeremy warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Was?" fragte sie lachend. Er setzte eine unschuldige Miene auf. „Nichts, nichts." Erwiderte er, doch seine grinsenden, grünen Augen flimmerten spöttisch. Stephanie schnaubte bestürzt. „Mir gefällt dein Ton nicht, junger Mann." Jetzt konnte er nicht mehr an sich halten. Ein kaum unterdrücktes Lachen befreite sich aus seiner Kehle. „Und das willst du dage..." Er kam nicht dazu, seine Frage zu beenden, denn Stephanie hatte ihm die Worte bereits mit ihren Lippen abgeschnitten. Sie vergrub ihre Hände in seinen Locken. Sie liebte, wie weich und seidig sie waren. Wie seine Lippen. Und das Bett. Jeremy zu küssen wurde nie eintönig. „Extrapunkte für kreative Problemlösung." Flüsterte er.

Sie kicherte. „Gott. Danke, dass du mich gefunden hast. Ich hätte gerade wirklich überhaupt keine Lust, im Wald aufzuwachen." Jeremy grinste und ließ seine Stirn an ihre sinken. Stephanie fiel es schwer, etwas wahrzunehmen, abgesehen von Tannengrün. „Bleibt nur zu hoffen, dass die Nachbarn denken, ein Hund hätte gestern Nacht im Wald den Mond angeheult." Stephanies Erinnerungen spielten den Klang von Jeremys Heulen ab. Der Gedanke an das geisterhafte Geräusch jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Ich wusste gar nicht, dass wir das können." Jeremy zuckte seine Schultern. „Ich hatte eigentlich nie vorgehabt, es auszuprobieren." Stephanie erinnerte sich an das Gefühl, das es ausgelöst hatte, Jeremy zu antworten. Ihr Wolfskörper hatte die Kontrolle für sie übernommen. Es war ein wenig beängstigend, doch es ließ auch einen kleinen, aufgeregten Puls durch ihre Adern rauschen, als sie daran dachte. Unwillkürlich ließ sie ihre Finger über Jeremys Hand gleiten. Warm. Menschlich. Perfekt. „Lass uns das bitte im Ordner „Notfällpläne" ablegen." Jeremy lachte. „Nichts lieber, als das."

Als sie gemeinsam das Wohnzimmer betraten, war der Rest von Jeremys Familie bereits dort versammelt. David hob seine Nase aus seinem Kaffee, den er stehend an der großen Fensterfront trank, und grinste schelmisch. „Seht, wer sich auch zu uns gesellt." Jeremy lächelte verlegen. „Ich schätze, wir haben ein wenig verschlafen." Simon, der sich auf dem Sofa hinter einem Buch verschanzt hatte, antwortete, ohne seinen Blick von der Lektüre zu nehmen. „Ausschlafen, Jeremy. Man nennt es Ausschlafen." Kate tauchte in diesem Moment ebenfalls aus dem Nebenzimmer auf. Auch sie hielt eine Tasse Kaffee in der Hand, obwohl sich Stephanie daran erinnert konnte, dass sie beim letzten Frühstück als Einzige keinen getrunken hatte. Ihre deutlichen Augenringe ließen Stephanie den Grund für ihren plötzlichen Sinneswandel erahnen und ihr Gewissen ihr einen Stich versetzen. „Möchtet ihr auch einen Kaffee vor dem Frühstück?" Simon ließ geräuschvoll sein Buch zuschlagen. Er musterte alle Anwesenden unbeeindruckt durch seine Brillengläser. „Können wir bitte mit den Geschenken beginnen?"

Ein Winter in MaineWhere stories live. Discover now