Kling, Glöckchen

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Stephanie hätte nicht sagen können, wie lang sie so dort verharrt hatten. Nach einer Weile hatte sie nicht mehr das Gefühl gehabt, als würde ihr Herz so fest an ihre Brust schlagen, dass Jeremy es durch ihre Jacken hindurch ebenfalls spüren musste. Sie hatte vergessen, wo sie selbst aufhörte und Jeremy anfing, während ihr Atem sich als Dampfwolken in der eisigen Luft zu einem einzelnen, fluiden Wesen vereint hatte. Irgendwann hatte Jeremy seine Hände in ihren Nacken gelegt und ihr in die Augen gesehen. Sie musste ihn angeblickt haben wie ein Reh, das in die Scheinwerfer eines nahenden Autos guckt, denn er hatte gelächelt und ihr einen Kuss auf die Stirn gesetzt. Erst dann war das Gefühl wieder in ihre Glieder zurückgekehrt und der Begriff „Ich" hatte langsam wieder einen Sinn erhalten.

Sie hatten es zuvor noch nie ausgesprochen. Stephanie hatte nicht gewusst, was sie hätte antworten sollen. „Ich dich auch"? Das stimmte. Ja. Sie liebte ihn. Sie liebte Jeremy Martin. Allein der Gedanke ließ ihre Knie weich werden und gleichzeitig einen extatischen Funken in ihrem Kopf aufleuchten. Doch es einfach zu erwidern hätte sich falsch angefühlt. Wie eine einstudierte Nummer.

Jeremy hatte all seine eigenen Sorgen, um die es gerade eigentlich gegangen war, beiseite genommen, um ihr zu sagen, dass er sie liebte. Weil er wusste, dass es für sie nichts Schlimmeres gab, als ihn dabei zu beobachten, wie er sich selbst Vorwürfe machte. Das war seine Offenbarung gewesen. Stephanie hätte nicht das Recht gehabt, diesen perfekten Moment mit einer billigen Erwiderung zu trüben. Doch jetzt kamen ihr Zweifel. Hätte sie es erwidern sollen? Wusste Jeremy, wie sie fühlte? Zumindest schien er jetzt keine Antwort zu erwarten, als er schief grinste und ihr, wie ein Gentleman aus einem alten Film, seinen Arm anbot. Stephanie lachte und hakte sich bei ihm unter.

Gemeinsam gingen sie den Rest der Strecke. Noch immer wagte niemand etwas zu sagen. Keine Konversation, die sie hätten führen können, hätte sich angemessen angefühlt. Bei jedem Schritt rieben Jeremys Parka und Stephanies Wollmantel gegeneinander und produzierten ein kleines Bisschen Wärme, das dann bis auf Stephanies Haut drang.

Hin und wieder ließ Stephanie ihren Blick zu seinem Gesicht schweifen. Wieder schien er in Gedanken versunken zu sein, doch jetzt umspielte ein kleines Lächeln seine Mundwinkel. Jedes Mal jagte ihr der Anblick einen kleinen Schauer über die Haut. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als sei er elektrostatisch aufgeladen. Beinahe erwartete sie, das Zucken von Entladungen zwischen ihnen zu hören. Reibung, Wärme, Schnee und Strom. Sie hätte ewig so weiterlaufen können, sie konnte sich nicht vorstellen, irgendwann müde zu werden. Doch irgendwann wurde zwischen den Bäumen ein Haus sichtbar.

Als sie sich dem Gebäude näherten erkannte Stephanie auch die Straße, an die es angrenzte. Wie auch die Häuser in Jeremys Straße war es ein klein Wenig in den Wald eingelassen, sodass der Garten hinter dem Haus zu allen Seiten von einem Wall aus Bäumen umgeben war. Als sie schon beinahe die Grenze des Waldes erreicht hatten, erkannte Stephanie, dass das Haus nicht einfach nur einen merkwürdigen Anstrich besaß. Mit überrascht geweiteten Augen wandte sie sich zu Jeremy um. Der grinste sie wissend an. Jetzt, wo sie das Dickicht wieder verließen, war es ihnen wieder gestattet, zu sprechen. Der Wald hatte den Moment für sie in sich aufgenommen und verwahrte ihn sicher. Lächelnd betrachtete Stephanie das Haus mit dem spitzen Dach aus roten Ziegeln, während sie die ersten Schritte in den Garten setzte „Ich hätte es eigentlich ahnen müssen."

An einem der Fenster, die aus dem Inneren des Hauses auf die in den Garten reichende, hölzerne Veranda blickten, grinsten Stephanie zwei grünblaue Augen entgegen. Wenige Momente später öffnete Chris die rot gestrichene Terassentür. Er trug einen karminroten Sweater, auf dem ein Rentier abgebildet, war, das mit einer Sonnenbrille am Strand faulenzte. „Tut mir leid, meine Mutter hat mir verboten, die Lebewesen des Waldes zu füttern. Sonst hätte ich euch gern auf einen Eierpunsch eingeladen." Stephanie stieg lachend auf die Veranda. Sie gab ein leises Knarzen von sich. „Ein Blockhaus, Chris? Wieso wundert mich das nicht?" Chris grinste schief und strich mit seiner Hand über das wettergegerbte Holz der Facade. „Das war Priorität Nummer eins gewesen, nachdem meine Mom den Job in der Kanzlei bekommen hat." Plötzlich erschien noch ein zweites Gesicht neben Chris in der Tür.

Ein Winter in MaineWhere stories live. Discover now