rieselt

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„Dir auch frohe Weihnachten." Stephanie versuchte ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen, doch sie fing bereits an zu beben. Ihre Muttersprache fühlte sich nach den Worten, die sie mit Jeremy gewechselt hatte, auf einmal zäh und klebrig auf ihrer Zunge an. Einen Moment war es am anderen Ende der Leitung still. Stephanie konnte ihr Herz spüren, das gegen ihren Brustkorb schlug. Endlich ertönte ein leises Schluchzen. „Stephie, Fermata ist gestorben."

Stephanie spürte nichts mehr gehen ihren Brustkorb schlagen. Vielleicht bemerkte sie es nicht mehr, vielleicht hatte es einfach aufgehört. Sie hätte es in dem Moment nicht sicher sagen können. Sie fühlte in sich hinein. Sie fand nichts. Um sie herum war ihr auf einmal alles fremd. Sie befand sich in einem fremden Haus, trug ein fremdes Kleid. Ihr gegenüber stand ein Fremder, der sie besorgt musterte. Sie selbst steckte in einem fremden Körper. Dann begann sie, eine einzige Sache zu spüren: die Kälte, die aus dem Fliesenboden durch ihre Socken in ihre Fußsohlen kroch. Schließlich kam die Welt wieder zu ihr zurück. Sie wusste nicht, wie lang sie dort gestanden und nichts gesagt hatte. Sekunden? Minuten?

Sie sprach, doch es waren nicht ihre Worte. Es war eine einstudierte Szene aus einem Theaterstück. „Was? Woran?" am anderen Ende der Leitung weinte ihre Schwester jetzt heftig. So sah es ihre Rolle vor. „Nierenversagen. Wir haben sie am Morgen zum Tierarzt gebracht, weil sie sich merkwürdig benommen hat. Und dann, vor zwei Stunden..." Sarah zog in Schüben den Atem ein und genauso ruckartig stieß sie ihn wieder aus. „Unsere Eltern wollten nicht, dass ich es dir heute sage, aber ich dachte mir, du willst...es hat sich einfach falsch angefühlt es dir nicht zu sagen." Wieder ein Schluchzen. Stephanie versuchte sich an ihren Text zu erinnern.

„Nein! Ich meine Ja! Natürlich. Natürlich will ich es wissen. Du hast Recht. Danke." Sarah war jetzt etwas stiller geworden. Sie schien sich über Stephanies Reaktion, oder eher das Fehlen einer Reaktion, zu wundern. „Stephie, ist alles okay?" Stephanie griff sich mit einer Hand an ihre Nasenwurzel. Ihre Finger schickten einen Hauch Kälte zwischen ihre Augen. „Ja. Ja. Ich muss das erst mal sacken lassen. Ich schreibe dir später." Ihre Schwester schluchzte noch einmal leise. „Okay. Ich hab' dich lieb." Sagte sie leise. „Ich hab' dich auch lieb." Erwiderte Stephanie. So stand es im Skript.

Sie legte auf und legte das Handy auf der Wendeltreppe ab. Aus irgendeinem Grund musste sie Distanz zwischen sich und das Gerät bringen. Suchend sah sie sich im Raum um. Ihre Augen fanden Jeremy. Er trat einen Schritt auf sie zu und berührte sacht ihren Arm. „Ist alles in Ordnung?" Es war die leichteste Berührung, die sie je gespürt hatte, dennoch zuckte sie zusammen. Sie sah ihn überrascht an. „Fermata ist tot." Flüsterte sie.

Sie hatte es ausgesprochen. Das machte es dennoch nicht real. Jeremys sanfte Stimme drang wie durch Watte zu ihr hindurch. „Steph, das tut mir so leid." Stephanie sah ihn an. Ein kurzer Schreck huschte über sein Gesicht. Zuerst wusste Stephanie nicht, woran es gelegen hatte, dann spürte sie selbst die heiße Träne, die an ihrem Gesicht hinabrann. Wer hatte diese Träne geweint? Sie war es nicht gewesen. Stephanie wischte mit einem Finger über ihre Wange und betrachtete fasziniert den klaren Tropfen auf ihrer Fingerspitze.

„Möchtest du darüber reden?" Seine Stimme drang aus noch weiterer Ferne zu ihr. „Nein." Hörte sie sich selbst sagen. „Lass uns zum Essen gehen." Jeremy musterte sie besorgt. „Steph, meine Familie versteht sicherlich, wenn dir gerade nicht nach Feiern zumute ist." Sie schüttelte den Kopf und setzte ein vorsichtiges Lächeln auf. Es war genauso richtig und genauso falsch wie jeder andere Gesichtsausdruck. „Es geht mir gut." Jeremys grüne Augen schienen sie zu durchdringen. Direkt durch ihre Facade in ihr Inneres zu blicken. Und wenn sie es taten? Sie würden dort nichts finden. War eine Lüge zu behaupten, es ginge einem gut, wenn es einem in Wirklichkeit überhaupt nicht ging? Vielleicht. Noch einmal lächelte sie, dann setzte sie sich in Richtung Treppe in Bewegung.

Ein Winter in MaineDär berättelser lever. Upptäck nu