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Jeremy rannte durch den Schnee neben dem Haus. Der Wind fuhr ihm durchs Haar und in dem dichten Gestöber aus Flocken konnte er kaum etwas erkennen. Sein Puls raste. „Steph!" rief er verzweifelt. Es musste eine bessere Lösung geben, als im Wald zu verwinden. Sie konnten...nein. Wie immer hatte Steph recht. Das war ihre einzige Option gewesen. „Steph!" versuchte er es dennoch ein zweites Mal. Er konnte seine eigene Stimme kaum vom Heulen des Windes unterscheiden. Als er eine Bewegung im Dickicht erkannte, blieb er stehen. Der Bewegungsmelder hatte den Strahler an der hinteren Hauswand aktiviert und sandte sein Licht an den Stämmen hinauf, die das Grundstück begrenzten. Der Schein hatte kaum eine Chance. Er drang nicht weit genug in das Dickicht ein. Stattdessen kam ein Leuchten zwischen den Bäumen zu ihm heraus. Zwei leuchtende Augen. Steph.

Einen Moment sahen sie sich gegenseitig an. Steph beobachtete ihn und er beobachtete zwei leuchtende Punkte. Das war es, was er aus ihr gemacht hatte. Ein Wesen, das sich vor der Menschheit im dunklen Wald versteckte. Ein stechender Schmerz breitete sich in seinem Brustkorb aus, als die beiden leuchtenden Punkte wieder verschwanden und nichts zurückließen, außer den schwarzen Abgrund auf der anderen Seite der Bäume.

Steph war irgendwo im Wald. Allein. Und vermutlich rasend auf sich selbst, weil sie die Kontrolle verloren hatte. Die Kontrolle, die sein Einfluss auf ihr Leben ihr abverlangte. Hätte sie ihn nie kennengelernt, dann...nein. Nein! Das waren keine hilfreichen Gedanken! Sie hatte ihn kennengelernt! Sie hatten zueinander gefunden und das waren die Umstände, unter denen es geschehen war. Und wenn er sie noch einmal zum ersten Mal treffen würde, er würde es genauso tun. Weil Steph so war, wie sie war, war Chris noch am Leben. War sie noch am Leben! Und jetzt gerade war sie ein Wolf in einem öffentlichen Park. Er musste sie finden.

Jeremy schloss die Eingangstür hinter sich und sah sich um. Er fand seine Stiefel und zog sie hastig über die nassen Socken. Als er sein Sakko abstreifte und stattdessen seinen Parka überzog, hörte er ein Geräusch. Aus dem Esszimmer drangen zwei aufgeregte Stimmen zu ihm in den dunklen Flur. „Ich weiß auch nicht, was los ist! Vielleicht hat sie Heimweh?" „Und dann rennt man nach draußen?" Jeremy hatte keine Zeit, um die Situation zu klären. Er musste sich beeilen, bevor seine Eltern begannen, im Garten nach ihm zu suchen. Noch während er die Tür hinter sich schloss, zog er sein Handy aus seiner Hosentasche und wählte Chris' Nummer. Die Schneeflocken machten das Display beinahe funktionslos. Nicht genug, dass schon das Weihnachsfest seiner Familie in Scherben vor ihm am Boden lag, jetzt musste er auch noch Chris und Charlotte stören. Er schlug sich den Gedanken aus dem Kopf. Es ging hier um Steph. Chris würde ihn lynchen, wenn er erfuhr, dass Jeremy ihn nicht zu Hilfe gerufen hatte. Nach einem Klingeln nahm Chris ab.

„Jeremy?" Seine Stimme war so ernst, wie Chris' Stimme überhaupt sein konnte. Er wusste, dass Jeremy ihn am Weihnachtsabend nicht ohne Grund anrief. „Steph ist im Wald. Und sie ist ein Wolf. Ihre Schwester hat vorhin angerufen, um ihr zu sagen, dass ihr Hund gestorben ist." Eine kurze Pause entstand, in der Chris das Gesagte verarbeitete. „Du glaubst, sie ist in meine Richtung unterwegs?" ein kurzes Lächeln huschte über Jeremys Gesicht. Chris war viel cleverer, als er manchmal tat. „Das ist der einzige Weg, den sie kennt. Es tut mir leid, dass ich dich darum bitte, ich weiß, du hast gerade besseres zu tun. Könntest du dich im Wald in der Nähe umsehen?"

Chris schnaubte am anderen Ende der Leitung. „Was redest du da? Natürlich helfe ich dir, sie zu suchen. Rufst du mich an, wenn du sie findest?" Jeremy kam an der Baumgrenze zum Stehen. Er blickte in das pechschwarze Dickicht. Die Spuren, die Stephanie hinterlassen hatte, wurden bereits von neuem Schnee aufgefüllt. „Ich fürchte, das wird nicht möglich sein." Flüsterte er, als ihn die Erkenntnis traf. „Okay." Sagte Chris nur. „Viel Glück." „Danke." Erwiderte Jeremy, dann legte er auf, ohne den Blick vom dunklen Wald abzuwenden, als würde die Nacht ihm doch noch eine andere Lösung unterbreiten. Nein. So hatte er die besten Chancen.

Ein Winter in MaineWhere stories live. Discover now