Schnee

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Chris starrte noch einen Moment auf das Display, nachdem Jeremy aufgelegt hatte. Er stand mit dem Teller Plätzchen, den er hatte holen wollen, in der Küche. Aus dem Wohnzimmer drangen die gedämpften Stimmen von Charlotte und seiner Mutter zu ihm. „Uno!" „Nicht, wenn ich es verhindern kann!" ein unwillkürliches Lächeln huschte über sein Gesicht. Seit einer Viertelstunde kämpften die beiden erbittert um diese Partie. Chris seufzte und öffnete die Tür.

Sowohl Charlotte als auch seine Mutter saßen jeweils unter einer karierten Decke auf dem Sofa und funkelten sich gegenseitig an. Er fragte sich, was an der Regel dran war, dass man sich zu Menschen hingezogen fühlte, die den eigenen Eltern ähnelten. Ein Schauer lief Chris über den Rücken und er schüttelte den Gedanken rasch aus seinem Gehirn. Der kleine, puristische Tannenbaum und der Kamin ließen die Szene noch einmal zusätzlich heimelig wirken.

Unmutig betrachtete Chris seinen Platz neben Charlotte. Ihr Rücken war nicht von der Decke bedeckt und wartete nur auf seine Schulter. Er würde Steph finden und dann rasch wieder zurück sein. Sie würden seine Abwesenheit kaum bemerken. Besonders dann nicht, wenn sie sich beide weiterhin vehement weigerten, das Spiel zu verlieren. Er stellte den Teller auf dem Couchtisch ab, was die beiden dazu bewegte, ihm einen kurzen Blick zuzuwerfen um sich dann wieder aufeinander zu konzentrieren.

„Danke!" Sagte seine Mutter, ohne ihn dabei anzusehen. Ein diabolisches Grinsen trat auf ihr Gesicht. „Charlotte wird einen Trost brauchen, wenn ich sie endlich plattgemacht habe." Charlotte lachte. „Berühmte letzte Worte eines Verlierers!" Jetzt lachten sie beide. Chris grinste wehmütig. Es fiel ihm gerade außerordentlich schwer, sich von dort loszueisen. „Ich gehe kurz an die frische Luft, ich glaube der Kuchen war ein wenig viel für meinen Magen." Sein Mutter stieß ein kurzes Schnauben aus. „Vielleicht aber auch die Tatsache, dass du drei Stücke davon gegessen hast!" Chris lachte. „Vielleicht auch das." Jetzt wanden sich beide zu ihm um. Seine Mutter bedachte ihn mit einem besorgten Lächeln.

„Willst du einen Tee?" Chris grinste. „Wenn ich einen wollte, wäre ich in der Lage, mir selbst zu einem zu verhelfen. Aber danke." Charlotte ließ ihre Karten ein wenig sinken. Jedoch nicht so weit, als dass Liz sie hätte einsehen können. „Soll ich mitkommen?" Die Frage versetzte Chris einen kurzen Stich. Ja. „Nein. Schon gut. Der Sieger des Weihnachts-Uno-Tourniers 2020 darf nicht ungekührt bleiben." Charlotte musterte ihn misstrauisch. Er liebte ihren Scharfsinn, doch manchmal kam er ihm äußerst ungelegen. Er versuchte sich an einem ahnungslosen Lächeln und verschwand im Flur.

Dort griff er sich die erstbesten Kleidungsstücke, die er finden konnte und stopfte sie in eine Einkaufstüte, die am Kleiderständer hing. Hoffentlich würde das ausreichen. Dann zog er selbst seine Jacke, Mütze und Stiefel an und öffnete die Tür. Der Sturm schickte einen ausladenden Windstoß aus der Finsternis durch den Eingang. Chris kniff unmutig die Augen zusammen. Richtig. Draußen war es dunkel. Das konnte man schon einmal vergessen, nachdem man zweiundzwanzig Jahre auf dem Planeten Erde verbracht hatte.

Kopfschüttelnd schloss er die Tür wieder und wandte sich zu der kleinen Kommode aus hellem Kiefernholz um, die vor dem Eingang stand. Er holte eine Taschenlampe aus der ersten Schublade. Gerade, als er sich zum Gehen wenden wollte, erschien eine große, schmale Gestalt in der Tür zum Wohnzimmer. Ihre glänzenden, schwarzen Locken ringelten sich friedlich bis auf ihre Schultern und bildeten einen starken Kontrast zu den leuchtend blauen Augen, die wütende Funken zu sprühen schienen. „Chris? Was tust du da?"

Chris hielt in seiner Bewegung inne. Sein Gehirn schien sich bei der Suche nach einer plausiblen Erklärung nahezu von innen nach außen zu kehren. Wieso ging man mit einer Tüte voller alter Winterkleidung an Heiligabend in einem Schneesturm spazieren? Um die Sachen an die Wohlfahrt zu spenden? Weinachten war immerhin das Fest der Liebe. Das würde er nicht einmal Jeremys Katze erzählen können, geschweige denn Charlotte. Für sie waren nicht einmal ihre besten Ausreden gut genug. Er war es dermaßen Leid, sie ständig anzulügen.

Langsam kam Charlotte auf ihn zu. Ihr fließender Gang und das glänzende, schwarze Haar ließen sie wie einen Panther auf der Pirsch wirken, doch in ihren Augen stand kein Angriff. „Was immer es ist, es hat etwas mit Jeremy und Stephie zu tun, oder?" Natürlich hatte es das. Darauf kam es immer wieder zurück. Sie drei in ihrer bizarren, kleinen Welt und Charlotte der Satellit, der sie in geduldigen Bahnen umkreiste. Der Astronaut, der darauf wartete, endlich landen zu dürfen. Es war einsam, allein im All. Chris suchte nach Worten und fand nur alte Tonbänder.

„Ich gehe nur kurz raus." Sagte er matt. „Ich bin gleich wieder zurück." Charlotte sah ihn einen Moment lang an, als würde sie etwas in seinem Blick suchen. Dann wandte sie sich ab. Ihr Ton war genauso müde, wie Chris sich auf einmal fühlte. „Ja. Natürlich. Entschuldigung. Ich schätze ich war einfach ein wenig paranoid." Sie wandte sich zum Gehen. Chris biss sich auf die Unterlippe und schloss die Augen. Er konnte sie nicht länger allein auf ihrer Raumstation lassen. Es war Zeit für sie, zu landen. Was sie dann auf diesem merkwürdigen, fremden Planeten tat, lag bei ihr. „Charlotte, warte." Sagte er leise.

Charlotte drehte sich zu ihm um. In ihrem Blick stand ein verletztes Abwarten. Sie rechnete wieder mit einer lauwarmen Ausrede. Plötzlich konnte es Chris nicht schnell genug gehen, ihr endlich die Wahrheit zu sagen, doch das hier war nicht der richtige Ort. Und draußen im Wald war Steph noch immer allein und unfähig, sich zurück zu verwandeln. „Charlotte, ich war nicht ganz ehrlich zu dir." Flüsterte er beinahe. Zu seiner Überraschung hob Charlotte die Augenbrauen. Ein ungläubiges Schmunzeln umspielte ihre Lippen. „Sag bloß." Antwortete sie. Chris konnte einfach nicht anders. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Der Versuch, seine nächsten Worte zu formulieren, wischte es allerdings wieder weg.

„Ich habe dir Dinge verschwiegen, die du über mich wissen solltest. Ich hatte nur zu viel Angst, dass du nichts mehr mir zu tun haben willst, wenn du davon erfährst." Chris ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen. „Jetzt, wo ich es ausspreche, spricht es wirklich nicht sehr für mich." „Nein. Das tut es tatsächlich nicht." Charlotte verschränkte die Arme vor der Brust. „Und das sollte es auch nicht. Ich habe es dir verschwiegen, weil ich feige und egoistisch war und das hast du nicht verdient."

Ein kurzes Aufflammen brachte Charlottes Augen für einen Augenblick zum Glühen. „Okay. Was ist es also?" Das war eben das Problem. Er konnte es nicht einfach aussprechen. Sie würde ihm nicht glauben. Und falls doch, war das vielleicht sogar noch schlimmer. Es musste einen anderen Weg geben. Er betrachtete die Taschenlampe, die noch immer schwer in seiner Hand ruhte. Chris traf Charlottes Blick. Er war dabei, sie um sehr viel zu bitten. Bei dem Gedanken beschleunigte sich sein Puls. Dennoch trat ein zaghaftes Lächeln auf sein Gesicht. „Wie wäre es mit einem kurzen Spaziergang?"

Ein Winter in MaineWhere stories live. Discover now