Es ist uns eine Zeit angekommen

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Jeremy versuchte seinen Kopf in eine Position zu bringen, in der keine der unzähligen Nadeln der großen Tanne eine unmittelbare Gefahr für sein Augenflicht darstellte. Dafür waren sie gleichzeitig damit beschäftigt, sich durch seinen Pullover hindurch in seinen Arm zu bohren, der den schmalen Stamm des Baumes festhielt. Deshalb trug er nie Strick. Er konnte abgesehen von dem dichten Nadelwerk nicht viel erkennen und leider war Steph auch keine große Hilfe. „Ein wenig nach links." Jeremy verschob den Stamm wie befohlen. Ein Tannenzweig verfing sich in seinen Haaren. „Oh nein! Entschuldigung. Falsche Perspektive. Ich meinte nach rechts." Jeremy stöhnte. „An welche Perspektive hattest du gedacht? Die des Baums?"

Irgendwo auf der anderen Seite des dornigen Walls lachte Simon schadenfroh. Jeremy schnaubte. „Halt du dich lieber bereit." „Irgendetwas sagt mir, dass mein Einsatz noch ein wenig auf sich warten lassen wird." Raunte Simon, doch Stephs enthusiastische Stimme strafte ihn lügen. „Stopp!! Genau so!" Einen Moment zögerte Simon. „Ähm...ich bin mir nicht sicher, ob..." Jeremy schüttelte seinen Kopf, um den Zweig loszuwerden, der inzwischen abgebrochen war, um sich stattdessen seiner Frisur anzuschließen. Es war ihm gerade äußerst egal, ob der Baum gerade stand oder den Weg nach Narnia wies. „Du hast sie gehört. Genau so." Ein missmutiges Grummeln war Simons Antwort. Ein lautes Klackern war zu hören, als er den Mechanismus des Christbaumständers einrasten ließ. Vorsichtig ließ Jeremy von der Tanne ab. Sie schien sich mit ihrer Position abgefunden zu haben. Er befreite sich aus der unangenehmen Umarmung des Baums und stellte sich neben Stephanie, um ihr Werk zu bewundern.

Die Tanne hatte in der Tat einen leichten Hang Richtung Kamin, doch das ließ sich Jeremys Meinung nach gerade noch unter künstlerischer Freiheit verbuchen. Stephanie hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt und mustere das Resultat kritisch. „Eventuell ist sie doch noch nicht ganz gerade." Simon richtete sich neben dem Baum auf und zog die Augenbrauen hoch. Neben seiner hohen, schmalen Gestalt wirkte der Stamm noch einmal deutlich windschiefer. „Ach. Findest du?" Jeremy legte den Kopf zur Seite, bis seine Blickrichtung mit dem Winkel des Baumes übereinstimmte. „Ich finde, es hat Charakter." Stephanie lachte und zupfte ihm eine Nadel aus dem Haar. Ihre blaugrünen Augen funkelten dabei amüsiert wie zwei Bergseen in der Mittagssonne. Niemand konnte völliges Versagen beim Christbaumaufbau derart gut verkaufen, wie sie. Ein Grinsen huschte über Jeremys Gesicht, als er die Nadel entgegennahm wie eine Trophäe. Noch bevor sich Simon zu ihrem lächerlichen Getue äußern konnte, wozu er gerade eindeutig ansetzte, kam Jeremys Mutter aus der Küche und besah sich mit in die Seite gestemmten Armen ihre Leistung. Durch die Geste wurde ihre schmale Statur unter der weiten Bluse sichtbar. Der Anblick versetzte Jeremy einen Stich. Er ließ die Tannennadel in seine Hosentasche gleiten.

„Simon, ich wusste nicht, dass es um deine Augen so schlecht bestellt ist." Simon quittierte die Anschuldigung mit einem empörten Schnauben. „Sicherzustellen, dass der Baum gerade steht, war Stephanies Aufgabe." Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht seiner Mutter, während Stephanie anschaulich bewies, wie sehr sich die Farbe ihrer Wangen der einer Tomate annähern konnte. Jeremy war beeindruckt. Sie war äußerst nah dran. „In dem Fall ist es ganz entzückend." Sagte Kate grinsend. Stephanie rang sich ein verlegenes Lächeln ab, das Jeremy zum Schmunzeln brachte. „Gut! Jungs, wir brauchen noch Feuerholz für heute Abend." Simon warf den Kopf in den Nacken und stöhnte. „Wieso können wir nicht einfach die Heizung anmachen, wie normale Leute?" Kate bedachte ihn mit einem schnippischen Lächeln. „Weil das nicht so festlich ist."

Simon zog eine Schnute. Wenn es nach ihm ginge, würden sie Weihnachten im Schein einer 60 Watt-Birne bei lauwarmen Macaroni mit Käse aus der Mikrowelle verbringen. Er schob sich die Brille auf der Nase zurecht und verwand kopfschüttelnd im Flur. Stephanie wollte sich ihm gerade anschließen, doch Jeremys Mutter hielt sie zurück. „Für dich habe ich eine andere Aufgabe, wenn du Lust hast. Ich bräuchte noch Hilfe mit dem Essen." Kate zwinkerte Stephanie verschwörerisch zu. Die musterte sie im Gegenzug verdutzt. Kurz wandte sie sich unsicher zu Jeremy um.

Ein Winter in MaineWhere stories live. Discover now