Macht hoch die Tür

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Stephanie sah von ihren Notizen auf. Als sie ihr Spiegelbild in der schwarzen Oberfläche des Fernsehers erblickte, musste sie grinsen. Sie sah aus wie eine größenwahnsinnige Königin. Mit überschlagenen Beinen und einem Nest auf dem Kopf, das nur mit viel Wohlwollen als Frisur gewertet werden konnte, saß sie auf der Couch. Das an sich erweckte noch keinen sehr feudalen Eindruck. Die beiden großen Wölfe, die sie jeweils seitlich flankierten, allerdings schon. Die Illusion wurde lediglich dadurch getrübt, dass einer von beiden schlief und der Andere dabei war, ein Buch über Familienrecht zu lesen.

Chris hatte ihren Blick bemerkt und sah von seiner Lektüre auf, um sie fragend zu mustern. Stephanie kicherte und machte eine wegwerfende Geste. Ihre Hirngespinste waren kein ausreichender Grund Jeremy zu wecken. Sie wandte sich zu ihm um, um zu überprüfen, ob es bereits zu spät war. Lächelnd stellte sie fest, dass er noch immer regelmäßig und ruhig atmete. Das Lehrbuch, das er hatte lesen wollen, lag aufgeschlagen neben ihm. Vorsichtig markierte Stephanie die Seite mit ihrem Stift und schloss den Deckel. Einen Moment beobachtete sie ihn noch, wie seine Augen hinter den geschlossenen Lidern arbeiteten. Er schien zu träumen. Kopfschüttelnd ordnete Stephanie ihre Gedanken. Sie war der Meinung, dass sich gegenseitig beim Schlafen zu beobachten nicht unbedingt Kennzeichen einer gesunden Beziehung war, daher wandte sie sich wieder ihrer Liste zu.

„Socken (warm), Pullover (warm), Schal (warm)" Stephanie war sich nicht mehr sicher, wieso sie es für nötig gehalten hatte, jedes Mal zu spezifizieren, dass die Kleidung warmhalten sollte. Scheinbar hatte sie vor drei Tagen wenig Vertrauen in ihren eigenen, gesunden Menschenverstand gehabt. Sie konnte es ihrem Ich von vor drei Tagen nicht übelnehmen. Tatsächlich war sie sich nicht sicher, wie stark die Aufregung ihre Fähigkeit zu Denken beeinträchtigte. Immerhin hatte sie heute Morgen vergessen, eine Tasse unter die Kaffeemaschine zu stellen. Chris hatte es sich nicht nehmen lassen, sie zu fragen, ob er die Milch gleich hinterhergießen sollte. Stephanie seufzte leise und ließ ihren Blick von dem kleinen Zettel auf ihrem Schoß zum Fenster gleiten. Es war ohnehin zu früh, um richtig zu funktionieren.

Die Sonne hatte es gerade einmal mühsam geschafft, sich am westlichen Horizont blicken zu lassen, und so wie es gerade aussah, liebäugelte sie mit dem Gedanken bei dem verhangenen Himmel einfach wieder umzukehren. Eine dichte, graue Wolkendecke lag über Toronto und färbte den Schnee, der draußen auf der Straße lag, in einem matten, dichten Weiß. Er lieferte sich ein erbittertes Duell mit dem warmen Rot der umliegenden Backsteingebäude. Die Laternen trugen weiße Kappen und die kleinen Fenster, die den Blick auf ihre Strahler freigaben, waren durch komplexe Muster aus Eisblumen eingetrübt, deren Blätter durch das warme, orangefarbene Licht zum Leben erweckt wurden. Stephanie wäre wirklich gern wieder ins Bett gegangen, doch sie hatten heute eine zehnstündige Autofahrt vor sich und mussten so früh wie möglich aufbrechen, wenn sie die spärliche Länge des Tages ausnutzen wollten.

Das Weihnachtsfest bei Jeremys Familie zu verbringen erschien Stephanie noch immer etwas unverhältnismäßig, angesichts der Tatsache, dass sie sie bisher nur als Gesichter auf einem Computerbildschirm kannte. In 2D hatten sie allerdings immer sehr nett gewirkt. Um zu verhindern, dass ihr Gehirn sich noch mehr irrationale Gründe dafür überlegte, dass Jeremys Familie sie absolut nicht ausstehen können sollte, zwang sie ihre Konzentration, wieder zu ihrer Packliste zurückzukehren.

„Geschenke für zwei Personen, die kein Deutsch können, ihren Namen aber auf einer Liste erkennen würden." Das war auch noch so eine Sache. Sie hatte nicht lange überlegen müssen, was sie Chris schenken würde. Bei Jeremy war es allerdings etwas komplizierter. Lange hatte sie mit sich gerungen. Wenn sie nur wüsste, was er für sie bereithielt! Stephanie träumte einen Augenblick von einer Welt, in der man sich im Voraus mitteilte, was man sich gegenseitig schenken würde. Sie seufzte selig.

Es war gerade mal sechs Uhr morgens. Jeremy und Chris waren bereits seit zwei Stunden wach. Sie wollten sich die Fahrt teilen und daher so entspannt wie möglich sein, weshalb sie beide noch einige Zeit als Wolf hatten verbringen wollen. Stephanie hatte gestern Abend ihr Pensum erfüllt. Sie würde sich voraussichtlich erst in drei Tagen wieder verwandeln müssen. Sie spielte dieses Spiel nun schon seit einem halben Jahr und war inzwischen recht gut darin. Zwar neigten sie und auch Chris von Zeit zu Zeit dazu, ihre Widerstandfähigkeit zu überschätzen, doch es war lange her, dass sie das letzte Mal von einer Form in die andere gezwungen worden war. Diese Fähigkeit hatten nur der Vollmond und sehr starke Emotionen. Momentan ruhte ihre kleine Sprungfeder sicher in ihrer Hand und machte keinerlei Anstalten, ihr zu entgleiten. Dennoch sprach sie wie immer mit leiser, konspirativer Stimme: Stephanie. Wie wäre es mit einem Waldspaziergang? Oder einfach nur mal die Nase in die Morgenluft halten. Deine gute Nase. Da Stephanie aber eine rationale Person war, wusste sie, dass es nichts an der Luft in Toronto gab, das eine Wolfsnase riechen wollte. Eher im Gegenteil. Manchmal waren weniger Riechzellen mehr. Ein selbstbewusstes Klopfen an der Tür riss Stephanie aus ihren Gedanken. Chris sah überrascht von seinem Buch auf und auch Jeremys Augen öffneten sich schlagartig. Verwirrte blickte Stephanie Richtung Wohnungstüre. „Sie ist viel zu früh!"

Einen Moment starrten sie alle perplex Richtung Eingang. Stephanie löste sich als Erste aus ihrer Starre. Sie blickte Chris und Jeremy an. Sie hatten nur zwei Stunden in Wolfsform gehabt. Der Wolf würde darüber nicht glücklich sein und sich zieren, von ihnen abzulassen. Es würde einen Moment dauern, wieder menschlich zu werden. Länger, als es höflich wäre, einen Gast vor der Tür stehen zu lassen. Stephanie stand auf und rutschte auf ihren Socken über das Parkett in Richtung Flur. Sie öffnete zwei Türen. „Jeremy Bad, Chris Schlafzimmer." Flüsterte sie. Gehorsam verschwanden die Beiden in ihren zugewiesenen Räumen. Stephanie schloss die Türen hinter ihnen, dann wandte sie sich zur Wohnungstür um. Als sie nach der Türklinke griff, versuchte sie sich daran zu erinnern, nicht allzu aufgewühlt zu wirken. Sie hätte sich keine Gedanken machen müssen. Bei Charlottes Anblick musste sie ohnehin lächeln.

Ein Winter in MaineWhere stories live. Discover now