Kapitel 12 "Der Hierophant III"

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Natalie wachte in einem riesigen Schlafzimmer auf. Der Kronleuchter hing so hoch oben, dass sie ihn fast nicht mehr erkennen konnte. Neben ihr hörte sie das vertraute Schnarchen von Joshua. Sie zog sich eine Felldecke vom Gesicht und rieb sich müde die Augen. Jonas lag auf dem Boden, auf einer riesigen Matratze und schlief ebenfalls noch. Alleine hätte Natalie das Bett nie erklimmen können, es war so hoch, wie ein Einfamilienhaus. Gerade fragte sie sich, wie sie dort hoch gekommen war, da rollte sich Joshua auf die andere Seite und hätte Natalie beinahe aus dem Bett geworfen. Beleidigt stand sie auf. Es war ein wackeliger Stand und sie strengte sich an ihr Gleichgewicht zu halten, dennoch trat sie Joshua in den Rücken. Natürlich merkte er das nicht. Natalie legte sich wieder hin. So, dass sie Joshua sehen konnte. Zumindest seinen Hinterkopf. Die kurz geschorenen Haare waren so lang wir ihr halber Unterarm. Sie streckte die Hand aus und wuschelte ihm durch die schwarzen Haare. Anders als sein Onkel, der vorherige König, König Jack, hatte er schwarze Haare, die so intensiv dunkel waren, dass sie sogar in der Sonne schwarz glänzten. Natalie hatte hier im Palast ein Portrait von Joshua und seinen Eltern gesehen. Sein Vater hatte ebenso so blonde Haare, wie sein Bruder, der König, gehabt. Ein dreckiges Blond, das golden schimmerte. Seine Mutter hatte rabenschwarze Haare gehabt und sie war wunderschön gewesen. Die kantigen und zu gleich weichen Züge, hatte Joshua ebenfalls von ihr geerbt. Sie schloss die Augen und schlief wieder ein. Ihr Traum handelte von der Feier gestern. Zusammen mit Jonas tanzte sie auf den Tischen und sang schlechtes Karaoke zu ihren Lieblingssongs aus Mondos, die Joshua auf seiner Gitarre spielte. Jonas zog im Laufe des Abends seinen schicken Anzug aus und tanzte im schicken Hemd und Hose zu „Teenager“ von My Chemical Romance, was Joshua und Natalie aus voller Kehle grölten. Der Wein und anderer Alkohol flossen in Strömen und tauchten das Geschehen in ein schummriges Licht. Wie durch einen Schleier sah Natalie nun dem Geschehen zu. Plötzlich änderte sie die Szenerie. Sie war an der Ruine. Vor ihr standen die zwei Dämonen, doch sie schienen sie nicht zu sehen. Natalie machte ein paar Schritte nach vorne. Sie reagierten nicht. Natalie betrat die Ruine. Sobald sie die Schwelle des Eingangs betrat, baute sich die Ruine, wie im Zeitraffer wieder zusammen. Es war eine Kapelle. Natalie ging hinein. Ein kleiner Altar stand gegenüber dem Eingang und Sitzbänke aus Stein waren ihm zugerichtet. Natalie betrachtete den Altar. Er zeigte acht Gottheiten. Natalie erkannte Sire und Nefera, die wie das Ying und Yang eng miteinander verschlungen waren. Die anderen sechs Gottheiten kannte sie nicht. Verwirrt sah sich Natalie um. War das alles? Eine kleine Kapelle mit Altar? Das war so wichtig, das zwei Dämonen es bewachten? Und da hörte sie es. Das Flüstern. Komm. Kind, geboren aus Eis und Dunkelheit. Komm und sieh dir dein Erbe an.
Kind, geboren aus Eis und Dunkelheit? Was hatte das zu bedeuten? Im Traum folgte Natalie der Stimme. Hinter den Altar, zu einer Treppe, die nach unten führte. Sie lief durch einen engen Gang, der mit magischen Licht beleuchtet wurde. Dann führte eine Wendeltreppe noch weiter ins Innere der Erde hinein. Als sie am Fuße der Treppe ankam, blickte sie durch einen Eingang in das Innere eines unterirdischen Saals hinein. Das Gewölbe erstreckte sich hoch über ihr. Dort hingen Kerzenleuchter und erhellten den Saal. Natalie sah sich um. Vier Portraits säumten die Wände des Saals. Das eine erkannte Natalie. Der blutige König. Neben ihm hing ein Portrait eines jungen Mannes. Die weißblonden Haare locker nach hinten gekämmt, das Schwert im Halfter und er trug eine Soldatenuniform. Das Portrait, welches den beiden gegenüber hing, war das, einer Frau. Sie hatte wunderschöne, sanfte Züge, gelbgoldenes Haar und türkisblaue Augen. Sie war in ein weißes Kleid gekleidet. Das vierte und letzte Portrait hing über einem Altar. Es zeigte den blutigen König und die weiße Frau. Sie hielt ein Kind im Arm, das schwarze Haare und zwei verschiedene Augenfarben hatte. Das eine war braun, das andere blutrot. Natalie erschrak so heftig, dass sie sich selbst aufweckte. Völlig außer Atem saß im Bett und rang Luft, als ob sie soeben aus einem tiefen See wieder aufgetaucht war. Besorgt beugten sich Jonas und Joshua über sie.


Anna klappte gelangweilt den Biologiehefter zu. Schon seit einer halben Ewigkeit versuchte sie sich Genetik einzuprägen. Aber egal was sie auch versuchte, es klappte nicht. Immer wieder ging ihr die Sitzung mit Dr. Leichenberger durch den Kopf. Eigentlich hätte sie noch einen Termin mit ihm gehabt, aber sie ging nicht hin. Sie wusste, dass alles was sie mit Natalie erlebt hatten, echt war. Und das ließ sie sich nicht von einem Psychiater ausreden. Ihre Freundinnen Justine und Stefanie waren zu der Sitzung gegangen. Sie hatten ihr danach mit ihr geschrieben.
„Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass alles nur ausgedacht war.“ Schrieb Anna zum hundert tausendsten Mal in den Chat. Ihre Freundinnen antworteten auch dieses Mal gleich.
„Was, wenn doch.“
„Ich bin mir da nicht mehr so sicher.“
Anna verdrehte die Augen. Das konnte doch nicht ihr ernst sein.
Justines Katze miaute laut. „Ja, ist schon gut.“ Sagte Justine und füllte ihren Fressnapf auf. Sofort machte sich ihre kleine Katze darüber her.
„Anna schreibt…“ zeigte ihr Handy gerade an. Justine konnte es nicht beschreiben, aber jedes Mal, wenn sie Dr. Leichenberger sah, wurde sie unsicher. Es war, als würde er sie bei jeder Sitzung genau beobachten und sie zum Zweifeln bringen. Und es klappte. Doch wenn sie wieder nach Hause ging, wurde ihr klar, was er mit ihr machte. Sie hatte keine Ahnung, ob das nur irgendwelche Psychospielchen waren oder er hatte etwas mit ihnen vor. Anna ging nicht zu den Sitzungen. Sie war der Meinung, es wäre überflüssig und Zeitverschwendung, da alles wahr war. Justine ging zu den Sitzungen, um herauszufinden, was Dr. Leichenberger vor hatte. Aber sie machte sich Sorgen, um Stefanie. Denn Stefanie schien sein Spiel zu glauben. Sie fing an zu Glauben, dass alles mit Heris und Natalie nur in ihren Köpfen war. Gerade schrieb Justine ihre Vermutung an Anna, da kam die Nachricht im Gruppenchat: „Was, wenn er uns nur verarscht und etwas mit den Informationen vor hat. Und wir Idioten, haben sie ihm gegeben.“
Stefanie starrte auf die Nachricht. Mit zitternden Fingen tippte sie ihre Antwort.
„Das glaubt ihr doch nicht wirklich.“
Aus irgendeinem Grund wollten Anna und Justine an dem Glauben festhalten, dass Heris wahr war. Aber was, wenn sie sich das nur vorgestellt hatten? Stefanie zweifelte nach den Sitzungen mit Dr. Leichenberger immer mehr an der Wirklichkeit, an dem, was ihnen in den letzten Wochen passiert ist. Es war ihr unbegreiflich, wie Anna und Justine so an dem Geschehenen festhalten konnten. Vielleicht waren sie wirklich traumatisiert und wollten mit aller Macht ein Trauma vergessen und unter Verschluss behalten.


Es war drei Uhr morgens. Natalie lag wach in ihrem Bett. Sie war alleine. Drei Tage war es her, dass Joshua gekrönt wurde. Er war nun in seinem Königreich, in seinem Palast und schlief in seinem Bett. Ebenfalls alleine. „Ich liebe dich.“ Flüsterte sie in die Stille und die Dunkelheit, in der Hoffnung Joshua würde es hören. Sie lag noch eine Weile lang reglos im Bett, stand dann auf, um in die Küche zu gehen und etwas zu essen. Eine kalte Briese streifte ihre Arme. Sie schauderte. Dann sah sie sie. Die weiße Frau. Sie schwebte vor der verborgenen Tür, die in die Gruft führte. Sie starrte Natalie aus traurigen, türkisblauen Augen an. Es war, als würde sie Natalie rufen. Dann glitt sie durch die Wand. Natalie folgte ihr durch die Tür und sah, wie sie die Treppe hinunter schwebte. Sie lief hinter ihr her, bis zum Ende  der Treppe. Dann verlor sie ihre Spur. Natalie sah in die Gänge, die vor ihr lagen. Es war stockdunkel. Sie hatte keine Taschenlampe dabei. Doch dann erinnerte sie sich an einen Lichtzauber. Sie formte ihre Hände zu einer Schale und flüsterte die Zauberformel hinein. „Ruticud Melos“ Ein kleines Licht entzündete sich in ihren Händen. Zufrieden lächelte sie. „Klappt doch.“
Sie leuchtete in die Gänge hinein, doch die weiße Frau war in keinem der Gänge. Sie beschloss die anderen Gänge, die sie nicht mit ihren Freunden erkundet hatte, heute Nacht zu erkunden. Der erste Gang, den sie erkundete war unspektakulär. Er endete abrupt mit einer steinernen Wand. Natalie suchte nach losen Steinen, die eine Tür öffnen könnten. Doch sie wurde nicht fündig. Frustriert versuchte sie es beim zweiten Gang. Dieser war etwas interessanter. Er führte zu anderen Räumen, die wohl einst als Kerker gedient hatten. Jetzt waren sie von Spinnweben und Staub eingehüllt, sie wurden mit der Zeit vergessen. Eine Ratte huschte an Natalie vorbei, als sie eine der Türen öffnete. Sie starrte in einen riesigen Raum mit aufgebrochenen Handschellen. Das war beruhigend und so gar nicht gruselig. Sie betrachtete die Schellen näher. Sie waren viel zu groß für menschliche Handgelenke. Eilig verließ sie den Raum und erkundete die andere Gänge. Diese endeten, wie der erste Gang, mit einer steinernen Wand. Natalie ließ sich davon jedoch nicht abbringen. Sie ging den Gang noch einmal entlang, den sie mit ihren Freunden erkundet hatte. Sie ging ihn bis zum Schluss entlang. Er endete ebenfalls mit einer Steinwand. Also ging Natalie zurück zum Raum, wo sie das Portrait gefunden hatten. Sie schloss die Tür hinter sich und warf das Licht an die Decke, sodass es den gesamten Raum erhellte. Dann machte sich Natalie daran, die Kisten zu untersuchen, die im Raum aufeinander gestapelt waren. Sie waren vollgepackt mit alten Artefakten und Bildern. Sie erkannte Kinderfotos und einige Herrscher von Heris. Der Maler hatte sie gut getroffen. Kelche und Schalen aus Kupfer waren ineinander gestapelt. Kreuze mit Edelsteinen und andere Göttersymbole fielen ihr die Hände. Plötzlich hörte sie eine zarte Stimme hinter sich. Sie drehte sich nicht um. Natalie wusste wer hinter ihr war. Die weiße Frau. „Neben dem Portrait.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauchen. „Rechts.“
Natalie sah zu einer Kiste, die rechts vom Portrait des blutigen Königs stand. Sie wurde fast verdeckt von Pergamentrollen. Sie schob die Rollen zu Seite und öffnete die Kiste. Zum Vorschein kamen Bücher, gebunden in Leder. Einige waren beschriftet. Die weiße Frau war plötzlich neben ihr. Sie deutete mit einem zitternten Finger auf eines der Bücher. Es hatte einen roten Einband, in goldener, verschnörkelter Schrift war darauf geschrieben: „Das Tagebuch von Lilliane der Elysischen Felder“
Natalie stockte der Atem. Das war die Frau von König Aicalla. Sie nahm es aus der Kiste mit vorsichtigen Händen. Darunter erkannte sie ein identisches Tagebuch. Auf diesem stand: „Das Tagebuch von Jokhain dem Ersten“
Natalie nahm auch dieses vorsichtig aus der Kiste. Die weiße Frau neben ihr kam ihr näher und flüsterte etwas in ihr Ohr. Sie spürte keinen Atem. Trotzdem lief Natalie ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie sagte: „Lies es. Es ist die Wahrheit. Bitte.“
Sie klang schwach, traurig und verzweifelt, als hätte sie ihr gesamtes Leben eine Lüge gelebt und würde nun nach ihrem Tod dafür Sorgen, dass die Wahrheit ans Licht käme. Natalie riskierte einen Blick auf die traurige Gestalt. Sie war fast durchsichtig, doch man erkannte dennoch ihre Züge. Weich und zart. Traurige türkisblaue Augen und helle Haut. Ihre blonden Haare waren verblasst und fast weiß. Sie umgaben sie, als sei sie unter Wasser. „Bitte.“ Hauchte sie verzweifelt. Eine einzelne Träne kullerte über ihr wunderschönes Gesicht. „Du musst uns glauben.“ Mit diesen Worten löste sie sich vor Natalies Augen in Luft auf. Hastig stand Natalie auf und sah sich um. „Ja, ich werde es lesen.“ Rief sie in die Stille, die sie umgab. „Und ich werde es glauben.“ Flüsterte sie. Dann ging sie mit den zwei Tagebüchern unter dem Arm zurück in ihr Zimmer und fiel müde in ihr Bett. Sie schlief sofort ein. Es war ein traumloser Schlaf.

Das verlorene KönigreichKde žijí příběhy. Začni objevovat