Kapitel 11 "Der Hierophant II"

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Dr. Hektor Leichenberger war der beste Psychiater in der Umgebung. Aus diesem Grund wurden die Mädchen zu ihm geschickt. Nun saßen sie unangenehm nebeneinander auf der Couch in seinem Behandlungszimmer. Das Sofa war weiß, genauso wie die Wände, die von schwarzen Bücherregalen und abstrakter Kunst gesäumt wurden. Es sollte dem Zimmer eine herzliche und angenehme Atmosphäre verleihen. Das die Menschen, die seine Hilfe brauchten, sich wohl und entspannt fühlten. Doch die Mädchen waren alles andere als entspannt. Dr. Leichenberger betrat nun den Raum. Er hatte seine schwarzen Haare ordentlich zurückgekämmt und seine braunen Augen sahen die Mädchen freundlich an. Seine Züge verrieten, dass er vermutlich ägyptische Wurzeln hatte.
Dr. Leichenberger begrüßte die Mädchen ebenso freundlich, doch sie murmelten nur ein leises „Hallo”. Er setzte sich ihnen gegenüber in den Sessel. Dieser war ebenso weiß, wie die Couch und die Wände.
„Ihr seid also die Mädchen, die eine Woche lang spurlos verschwunden waren.”
Die Mädchen blieben still.
„Und jetzt redet ihr nicht mehr mit euren Eltern.”
Wieder schwiegen die Mädchen.
„Ihr seid 18, das ist also nicht sonderlich verwunderlich.” fuhr Dr. Leichenberger fort, um eine Reaktion von den Mädchen zu bekommen.
„Wir können uns auch die Stunde lang anschweigen. Ich werde auch dafür bezahlt.”
„Wir brauchen ihre Hilfe nicht.” murmelte Anna leise.
„Wie war das?”
„Wir brauchen ihre Hilfe nicht.” wiederholte Anna, dieses Mal lauter.
„Ich dachte ihr seid 18 und nicht 5.” scherzte er. Die Mädchen sahen ihn beleidigt an.
„Hört zu, ich kann euch nicht helfen, wenn ihr nicht mit mir redet. Was in diesem Zimmer gesagt wird, bleibt in diesem Zimmer. Ich unterstehe der ärztlichen Schweigepflicht.”
Wieder schwiegen die Mädchen.
„Wenn wir es ihnen erzählen, werden sie uns einweisen.” sagte Justine zögerlich.
Dr. Leichenberger lachte. „Solange ihr nicht manisch Depressiv oder Schizophren seid, verschreibe ich nur Therapien und Pillen.”
„Werden wir mit Wahnvorstellungen auch eingewiesen?” fragte Anna provokant. Dr. Leichenberger antwortete nicht, er erkannte, dass Anna keine Antwort darauf wollte.
„Wir”, Justine zögerte, “Wir waren in einer magischen Dimension.”
Dr. Leichenberger begann mitzuschreiben.
„Und dort haben wir unsere verschollene Freundin wiedergefunden und haben die Woche mit ihr verbracht.” ergänzte Stefanie. Dr. Leichenberger nickte langsam.
„Wie seid ihr dort hin gekommen?”
„Mit einem Ritual.” antwortete Justine.
„Wie ging das Ritual?”
„Wir saßen in einem Kreis und haben Kerzen in einem Kreis aufgestellte und einen Spruch gesagt.” sagte Stefanie.
„Wie ging dieser Spruch?”
Justine sagte die Zauberformel auf und Dr. Leichenberger schrieb sie Wort für Wort mit.
„Interessant.” sagte er schließlich.
„Haben wir uns das alles nur vorgestellt?” fragte Stefanie zögernd. Plötzlich hatte sie Zweifel. Dr. Leichenberger legte seinen Block und Stift weg und faltete seine Hände.
„Sagen wir es so: Ihr habt vielleicht ein traumatisches Ereignis hinter euch und wollt es vergessen. Um das zu vergessen, habt ihr eine Mauer darum gebaut und versucht es mit etwas anderem zu ersetzen. Dieses Erlebnis kann in der Kindheit aufgetreten sein oder später in eurem Leben. Ihr versucht es durch diese ausgedachten, fantastischen Dinge zu vergessen. Das hat vielleicht mit dem „Verschwinden“ eurer Freundin zu tun.“ Er setzte das Wort „Verschwinden“ in Anführungszeichen.
„Sie wollen also sagen, wir haben uns das alles nur vorgestellt?!“ Anna sprang von dem weißen Sofa auf. „Wir denken uns das nicht aus. Wir waren dort. Und wenn sie denken, dass es Natalie entweder nie gegeben hat oder sie gestorben ist, als wir klein waren, liegen sie falsch!“
Dr. Leichenberger sah sie traurig und mitleidig an. „Die Wahrheit ist oft schmerzhafter. Aber manchmal ist es besser, sich den Dingen zu stellen. Damit abzuschließen.“
„Nein. Sie liegen falsch!“ Anna kochte vor Wut.
„Was wenn wir uns das wirklich nur vorgestellt haben? Wenn es Natalie wirklich nie gegeben hat?“ fragte Stefanie verunsichert.
„Nein!“ rief Anna. „Glaubt ihr wirklich, wir haben uns das nur vorgestellt?!“ sie sah ihre Freundinnen entsetzt an. Diese entgegneten ihr einen traurigen, unsicheren Blick.
„Das ist nicht euer Ernst.“ Sie sah zu Dr. Leichenberger.
„Ich gehe.“ Sagte sie entschieden.
„Anna.“ Begann Dr. Leichenberger.
„Nein, ich lasse mir nichts von ihnen sagen.“ Unterbrach sie ihn und stürmte aus dem Zimmer.  Die anderen Mädchen schwiegen.
„Wollt ihr ihr nicht hinterher laufen?“ fragte er die beiden Mädchen.
„Ich weiß nicht.“ Justine sah zu Boden. „Vielleicht haben wir uns das wirklich nur vorgestellt.“
Stefanie stiegen Tränen in die Augen. „Was wenn es Natalie wirklich nie gab?“
„Ich würde sagen, wir machen für heute Schluss.“ Entschied Dr. Leichenberger. Stefanie und Justine nickten traurig.
„Ich melde mich dann im Laufe der Woche bei euren Eltern und wir sehen uns dann zu unserer nächsten Sitzung.“ Er stand auf und gab jedem Mädchen die Hand als Verabschiedung. Justine und Stefanie nickten nur. Sie verabschiedeten sich höflich und verließen sein Behandlungszimmer. Die Sekretärin am Empfang beachtete sie gar nicht, als sie die Praxis verließen. Unberührt tippte sie irgendetwas in ihren Computer ein. Als sie am Parkplatz ankamen, suchten sie nach Annas Auto, da sie mit ihr gekommen waren und sie sie auch wieder nach Hause fahren sollte.
„Sie ist sicher schon gefahren.“ Sagte Justine. Doch Stefanie deutete auf das kleine weiße Auto in einer der hintersten Ecke des Parkplatzes. Anna hatte gewartet. Justine und Stefanie stiegen zu Anna ins Auto. Diese startete den Motor, fuhr jedoch noch nicht los.
„Alles in Ordnung?“ fragte sie ihre Freundinnen.
„Nicht wirklich.“ Antwortete Justine, die neben Anna auf dem Beifahrersitz saß. Anna umklammerte das Lenkrad. „Wir haben uns das nicht vorgestellt.“ Sagte sie. Dann parkte sie aus und fuhr ihre Freundinnen nach Hause. Den Rest der Fahrt sagte keines der Mädchen etwas. Sie waren alle in Gedanken versunken und versuchten die Sitzung zu verarbeiten. Es gab etwas merkwürdiges an Dr. Leichenberger. Etwas irritierendes, das die Mädchen völlig aus dem Konzept gebracht hatte und sie zum zweifeln veranlagte. Diese Zweifel lösten sich auch nach dem Besuch nicht so schnell in Luft auf.

Natalie stand vor dem Spiegel und drehte sich unsicher in dem schönen Kleid hin und her. Es war mit Perlen besetzt und mit weicher Seide eingehüllt. Es erinnerte Natalie an Cinderellas Kleid, da es die selbe Farbe hatte und glänzte. Ihre Krone war in ihre Haare geflochten worden von ihren Dienerinnen, die sie ohne Unterbrechung daran erinnerten, das heute die Krönung ihres Freundes war. Als ob Natalie nicht schon nervös genug war. Sie wollte heute schön aussehen, fühlte sich jedoch nicht wohl. Ihren Schneidern, Adam und Eve, hatte sie gesagt, sie hätte gerne ein Kleid, in einer dunkleren Farbe. Aber Charles hatte diesen Wunsch geschickt umgangen, als er sagte, Blau wäre schön und natürlich Seide. Adam und Eve liebten diesen Vorschlag und setzten ihn in die Tat um. Ganz zu ihrem Verdruss. Sie kam sich nicht, wie sie selbst vor. Das tat sie nie, in diesen hellen Kleidern. Sie zupfte an ihren Ohrringen, an denen kleine bunte Perlen hingen. Weitere Perlen waren in ihre Haare gewoben worden. Natalie betrachtete ihre Frisur genauer. Ihr Blick wanderte zu ihren Ohren, zu ihrem linken. Dort hatte sie ein Helix Piercing. Joshua hatte es ihr gestochen, nachdem sie ihn angebettelt hatte. Sie hatte sich damals eins gewünscht, doch ihre Eltern waren dagegen. Sie mussten es dann akzeptieren, als sie mit 15 mit dem Piercing ankam. Sie war so stolz gewesen. Heute zierte ein kleiner, mit Perlen besetzter Ring ihr linkes Ohr.
„Alles in Ordnung?“ fragte Jonas, der gerade das Zimmer betreten hatte.  Natalie drehte sich zu ihm. „Ja, ich denke schon.“
Jonas nickte. „Es geht gleich los.“
Natalie nickte ebenfalls. „Ich bin soweit.“
Er bot ihr seinen Arm an und Natalie hakte sich ein. „Eure Hoheit.“ Er grinste sie schief an. Natalie lächelte zurück. Auf dem Weg zur Kathedrale drückte sie Jonas‘ Hand so fest, dass er irgendwann vor Schmerzen aufheulte.
„Da frage ich mich, wer heute gekrönt wird.“ Sagte er und sah sie besorgt an. „Mit dir stimmt doch etwas nicht.“
„Es…“, sie sah besorgt auf ihre Hände, „Ich fühle mich nicht besonders wohl in dem Kleid.“
„Du siehst umwerfend aus.“ Sagte Jonas und Natalie wusste, dass er es ernst meinte. Sie sah ihn traurig an.
„Ich meine…“ Jonas suchte angestrengt nach den richtigen Worten. „Ich meine damit, du siehst gut aus. Joshua wirst du bestimmt gefallen.“
Natalie sah ihn gequält an. „Jonas…“
„Wir sind da.“ Unterbrach er sie und öffnete die Kutschentür. Er half ihr aus der Kutsche. Die Kathedrale ragte in den Himmel, wie ein Wolkenkratzer. Das Gold und Silber an der Fassade glitzerte im Sonnenschein. Allerlei magische Wesen strömten durch das Eingangstor in die Kathedrale hinein. Natalie hakte sich wieder bei Jonas ein, um halt zu suchen, da ihre Beine auf einmal nicht mehr funktionieren wollten. Gemeinsam gingen sie in die Kathedrale. Sie setzten sich in die erste Reihe, die für die Könige und Königinnen der anderen Königreiche reserviert war. Jonas wollte gerade gehen, doch Natalie hielt ihn kurz auf. „Danke, dass du für mich da bist.“ Flüsterte sie. Jonas nickte und lächelte sie an. Er setzte sich in die Reihe hinter sie. Dann begann die Zeremonie und sie standen auf. Joshua kam den Gang entlang geschritten. Ein Chor sang eine wunderschöne Melodie. Er sah gut aus. Seine grünen Haare waren ordentlich nach hinten gekämmt und er trug eine traditionelle Robe. Über seine rechte Schulter war ein Pelz gelegt. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Als er am Altar angekommen war drehte er sich zum Volk. Er zwinkerte Natalie kaum merklich zu. Der vorherige König kam mit der Krone auf einem weißen, glänzenden Kissen von der Seite. Dann erschienen die Göttinnen Sire und Nefera. Sire in einem orange-goldenen Gewand. Ihre goldenen Haare schwebten schwerelos in der Luft. Nefera war in ein lila Kleid gekleidet und ihre braunen Locken saßen auf ihren schönen Schultern locker auf. Joshua legte seinen Eid ab und trank aus dem Kelch der Göttinnen. Dann setzte Sire ihm, mit einer feierlichen Geste, die Krone auf. Natalies Aufmerksamkeit driftete ab dem Kelch ab und wanderte zu der Ruine und dem Portrait. Es war als könnte sie die Stimme aus der Ruine wieder hören. Sie sah an die hohe Decke der Kathedrale, die reich geschmückt war. Alle Könige und Königinnen von allen Königreichen wurden hier gekrönt. Also musste auch der blutige König hier gekrönt worden sein, wenn es ihn wirklich gegeben hat. Sie konnte die Furcht von Jonas und Joshua gegenüber des blutigen Königs nicht nachvollziehen. Sie war ja nicht mit den Geschichten aufgewachsen. Sie dachte gerade an ihre Freundinnen in Mondos, als Jonas sie antippte. Die Zeremonie war vorbei und alle begaben sich nun nach draußen. Die Feierlichkeiten würden in wenigen Stunden im Palast des Riesenkönigs beginnen. Draußen lief sie auf Joshua zu und umarmte ihn herzlich. Er hob sie hoch, als sei sie so leicht wie eine Feder. Natalie quiekte vergnügt. Er setzte sie wieder auf ihre Füße, aber ließ sie nicht los.
„Alles gute zum Geburtstag.“ Flüsterte sie ihm ins Ohr. Er flüsterte ein leises „Danke.“ zurück. Jonas kam hinter Natalie und endlich ließen sie sich los. Jonas gratulierte Joshua ebenfalls zum Geburtstag und natürlich zur Krönung. Sie unterhielten sich noch eine Weile und dann brachen sie zum Palast auf. Joshua versprach ihnen auf dem Weg dorthin, dass das die Nacht ihres Lebens werden würde.

Das verlorene KönigreichWhere stories live. Discover now