Kapitel V: Donner

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Das Bärenjunge stolperte hinter mir her und drückte die Nase in das Fell des Bärens. War es seine Mutter? Hoffentlich schlief sie weiter. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien es mir, dass sie aufwachte. Ich war mehrere Minuten hier und hatte sie nicht ein einziges Mal atmen gehört. Denn die Atmung von mir und dem kleinen Bärenjungen hallte in der Höhle. Es war hier drinnen, abgesehen von unseren Geräuschen und dem Tropfen von Wasser vollkommen still. Immernoch etwas zögernd legte ich meine Hand auf die große Bärin. Sie war kalt. Ich hatte Recht. In diesem Moment fing auch das kleine Bärchen an zu schluchzen, falls man das bei Bären so nennen konnte. Etwas überrascht schaute ich es an, wusste ich doch nichtmal das Bären Trauer empfinden konnten. Es war herzzerreißend. Wir waren jetzt wohl beide Waisen. Als wenn es meine Gedanken gehört hätte, tapste das Tier zu mir und kuschelte sich an mich, wobei es mich fast umstieß.

Es war so klein und wirkte so hilflos, so verletzlich. Ich wusste wie es war, ohne Eltern, ich verstand das kleine Bärenjunge. Es gab nur einen Unterschied; Ich wurde danach in ein Waisenhaus aufgenommen, mit Leuten, die sich um mich kümmerten. Dieses kleine Geschöpf allerdings hatte niemanden... außer mich. Sollte ich...? Es sah so klein aus, so verletzlich. Es war auf meine Hilfe angewiesen. Ohne Mutter würde es wohl kaum überleben. Aber für mich würde es mit Begleitung auch schwerer werden. Ich hatte nicht einmal für mich selbst eine Nahrungsquelle gefunden, für einen Bären zu sorgen schien unmöglich. Zumal so ein kleines Bärenbaby auch irgendwann erwachsen werden würden und spätestens dann in der Lage wäre mich ernsthaft zu verletzen, womöglich sogar umzubringen.
Plötzlich sah ich Ellen vor meinen Augen. Sie schlief, nichtsahnend, während ich flüchtete und sie dem Tod überließ. Ich hörte ihre gellenden Schreie, als der Mörder wohl in unserem Zimmer angelangt war. Ich hatte sie nicht gerettet. Ich hatte sie sterben lassen, obwohl ich die Chance hatte, ihr zu helfen. Ich weiß nicht, ob sie oder ich dann noch am Leben wären, aber ich wusste, dass ich sie indirekt getötet hatte. Dann sah ich wieder auf das kleine Bärchen zu meinen Füßen, welches mittlerweile eingedöst war und setzte mich neben das kleine Geschöpf.
Ein Name musste her.
Ich wollte es nicht immer nur Bärenjunges nennen, sonder etwas persönlicheres. Es war anscheinend ein Weibchen. Ein Name für eine Bärin... Wie wäre es mit Sonja? Nein, das klang zu ruhig für ein Raubtier. Garnicht so einfach. Das zufriedene Grummeln des kleinen Bärenmädchens ließ mich etwas zusammenfahren vor Schreck. Es erinnerte mich an weit entferntes Donnergrollen. Donner! Das war doch ein Name, der für eine kleine Bärin angemessen war. "Gefällt dir der Name? Donner?" flüsterte ich leise und war im ersten Moment von meiner eigenen Stimme erschrocken, die ich jetzt schon länger nicht gehört hatte. Sofort blickte Donner zu mir hoch, wie als Bestätigung, dass sie mit ihrem Namen einverstanden war. Waren alle Bären so intelligent? Nun wünschte ich mir, ich hätte damals im Biounterricht besser aufgepasst, als wir über Bären gesprochen haben. Vielleicht würde ich Donner dann besser einschätzen können. Nun mussten wir aber weiter, denn ewig konnten wir nicht in dieser Höhle bleiben und meine Angst kam wieder zum Vorschein, nachdem ich sie in meinen Überlegungen verdrängt hatte.

Als ich aufstand, stockte ich kurz. Würde mir Donner denn überhaupt folgen? Langsam ging ich ein paar Schritte von dem Bärenjungen weg, drehte mich zu ihr um und hielt angespannt den Atem an. Donner sah mir in die Augen, hielt für einen kurzen Moment inne und trottete mir dann gemächlich hinterher. Erleichtert atmete ich aus. Hoffentlich ändert sie ihre Meinung nicht doch noch und geht zurück. Diese Sorge erschien mir unbegründet, als ich sie beim Weitergehen hinter mir hörte. Ich hatte sie bereits etwas ins Herz geschlossen, so unvernünftig es auch war, aber wenn sie nicht mit mir gehen wollen würde, könnte ich sie nicht zwingen, soviel war klar.

Ich fühlte mich sofort freier, als ich aus der Höhle trat und atmete tief ein. Die Lust in der Höhle war zwar besser und vorallem kühler, aber zumindest hatte ich nichtmehr das Gefühl jeden Augenblick zerquetscht zu werden. Was sollte ich jetzt tun? Etwas unschlüssig drehte ich mich zu Donner um, die mir brav gefolgt war und jetzt neugierig schaute, weshalb ich gestoppt war. "Was soll ich bloß mit dir machen?" Fragte ich leise, mehr mich selbst als Donner. Sie schaute mich bloß weiter an. Was hatte ich auch erwartet? Das sie plötzlich anfing zu sprechen? Über diese Vorstellung leise lachend ging ich schließlich einfach weiter, entgegengesetzt der Richtung aus der ich vermutete, gekommen zu sein. Hinter mir hörte ich Donners tapsende Schritte, die schon bald zu mir aufholten, sodass wir schließlich Seite an Seite durch die lichten Bäume gingen. Und für diesen Moment vergaß ich alle Probleme, die mich plagten und ich genoss einfach nur die leichte Brise, die durch meine langen braunen Haare fuhr, das Gezwitscher der Vögel über mir und nicht zuletzt die Gegenwart des Bärenjungen. Es war wie eine lange Wanderung, mit dem entscheidenden Unterschied, dass ich keine Ahnung hatte wo ich war oder wohin ich unterwegs war. Aber für den Augenblick genoß ich einfach nur.

Nachdem wir ein paar Stunden so nebeneinander gingen und wieder am Fluss angelangt waren, setzte sich Donner irgendwann hin. "Was ist denn los?" Fragte ich sie, keine Antwort erwartend und keine brauchend. Sie war wohl erschöpft, genau wie ich, verständlich nach stundenlangem Wandern ohne Pause. Ihr Magen grummelte laut und sie schaute mich etwas vorwurfsvoll an. "Überredet, wir machen eine Pause." Sagte ich schmunzelnd zu ihr und setzte mich neben sie. Ich selbst hatte noch ein wenig Essen in meinem Rucksack, ich war mit meinen Mahlzeiten sehr sparsam umgegangen. Donner hatte ich aber nicht eingeplant, außerdem wusste ich nicht was Bären in diesem Alter aßen. Was wenn sie sich in diesem Alter noch von Milch ernährten? Dann wären meine bisherigen Bemühungen umsonst gewesen. Sie hätte wohl keine Chance zu überleben. Aber so jung wirkte sie auf mich nicht, was vermutlich an dem intelligenten Ausdruck in ihren Augen lag. Vielleicht wusste sie bereits instinktiv, was sie essen durfte, oder ihre Mutter hatte es ihr schon beigebracht? Es schien nicht der Fall zu sein, denn sie schaute mich weiter nur hungrig an und schien darauf zu warten, dass ich ihr etwas zum essen besorgte.

Ich schaute mich um, in der Hoffnung etwas zu sehen, was als Bärenfutter dienen könnte. Es gab ein paar Beerenbüsche, von denen ich allerdings nicht wusste, ob sie gut für Bären waren. Es kam wohl auf einen Versuch an, ich hoffte sie würde instinktiv wissen, welche Sorten giftig für sie waren.
Bei näherem Betrachten stellte sich heraus, dass es Blaubeeren waren, und so nahm ich eine Handvoll und brachte sie Donner. Sie fraß sie ohne zu Zögern auf und schaute mich abwartend an. "Dort hinten ist ein ganzer Busch voll damit. Warum gehst du nicht einfach die paar Schritte und nimmst sie dir selbst?" Seufzte ich. Sie schaute mich nur an. Da ich allerdings keine Lust hatte, die gesamte Zeit hin und her zu laufen, gab ich so schnell nicht auf. Ich stellte mich neben den Busch und rief nach ihr, und, siehe da es brachte überhaupt nichts. Noch ein Versuch. Dieses Mal kam sie sofort angerannt und stürzte sich auf die Beeren. "He, Lass mir auch noch welche übrig! Und glaub ja nicht, ich würde dir abkaufen, dass du mich beim ersten Mal nicht gehört hast. " Meinte ich kopfschüttelnd, worauf sie bloß belustigt schnaubte. Es kam mir wirklich so vor, als wenn sie mich verstand. Ich ging zu einem anderen Blaubeerbusch und füllte meine Box mit Proviant auf. Spätestens morgen würden die Beeren eine einzige zerquetschte Pampe sein, aber immerhin hatte ich etwas zu essen.

Nachdem ich satt war, setzte ich mich mit dem Rücken an einen Baum, stellte den Rucksack neben mich und schaute Donner in ihrer Unersättlichkeit zu. Wie viel doch in einen noch so kleinen Bären reinpasste. Doch irgendwann war auch ihr Hunger gestillt und sie tapste schwerfällig zu mir und ließ sich neben mich fallen. Da hatte sich wohl jemand überfressen. Ich war glücklich, nicht mehr allein zu sein und meine Sorge, sie könnte mir etwas tun, erschien mir nach und nach immer unbegründeter. Ich legte meine Hand auf ihrem Pelz ab und sie grummelte zufrieden. Jetzt weiterzugehen, war unmöglich, so voll wie wir beide waren, also rutschte ich in eine etwas bequemere Lage, natürlich ohne meine Hand von Donner zu nehmen und döste schließlich, genau wie die kleine Bärin neben mir, ein.

Überleben? Um jeden Preis!Where stories live. Discover now