Kapitel I: Nächtliches Grauen

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Ich wachte schweißgebadet auf. Mein Traum war wirklich nicht besonders schön gewesen und mein Gehirn wohl noch immer im Panikmodus, denn ich sah in der Dunkelheit des Zimmers um mich herum Gestalten, die in den finstersten Ecken zu stehen schienen. Ich wusste allerdings, dass man sowas im Dunkeln häufig sieht, da das Gehirn versuchte, in allem Gesichter und Gestalten zu sehen, um uns vor möglichen Gefahren zu schützen. Bestimmt nützlich wenn man vor Tausenden von Jahren im Wald lebte, zum Einschlafen aber eher... hinderlich. Mit einem immernoch etwas mulmigen Gefühl, das sich einfach nicht abschalten ließ, schlief ich schließlich wieder ein.

Wenig später, jedenfalls fühlte es sich so an, wachte ich wieder auf. Ich hatte deselben Traum, oder zumindest einen sehr ähnlichen. Erstickte Schreie, welche immer näher zu kommen schienen. Dumpfe Schritte. Aber es war nunmal nur ein Traum, kein Grund zur Sorge, außer vielleicht um meine seelische Gesundheit. Also versuchte ich weiter zu schlafen, mit mäßigem Erfolg, doch nach einiger Zeit war ich endlich kurz davor einzuschlafen. Plötzlich schreckte ich auf. Entweder hatte ich genau denselben Traum im Halbschlaf weitergeträumt, oder aber... Nein. Das konnte nicht sein. Doch, diesesmal war ich mir sicher. Diese Schreie waren kein Traum, ebensowenig wie die Schritte. Sofort stand ich auf, nahm mir meinen Rucksack, zog mir meine Jacke über und freute mich über meine lästige Angewohnheit, wenn ich sehr müde war mit Klamotten zu schlafen. Alles musste möglichst leise, aber dennoch schnell gehen. Nur nicht aus der Ruhe kommen, oder ich würde hier vollkommen durchdrehen, und das wäre wohl schlimmste, was passieren könnte. Etwas zögernd sah ich zu meiner Zimmernachbarin Ellen hinüber.
Ich mochte sie nicht sonderlich, aber ich würde sie natürlich retten. Normalerweise. Aber in dieser Situation wäre es ein gigantisches Risiko, sie zu wecken und die Wahrscheinlichkeit, das es mich umbringen würde, hoch. Allerdings könnte ich sie doch auch nicht einfach hierlassen und sie dem Tod, der wahrscheinlich in diesem Moment für uns beide sehr nahe war, ausliefern, oder? Wieder Schritte. Wahrscheinlich zwei Zimmer entfernt. Spätestens mit den darauffolgenden Schreien war meine Entscheidung gefallen, auch wenn ich diese vermutlich den Rest meines Lebens bereuen würde. Wenn ich anders entschieden hätte, würde ich sie zwar auch mein restliches Leben bereuen, nur das dieser dann deutlich kürzer ausfallen würde. 

Also öffnete ich das Fenster und überließ meine Zimmernachbarin ihrem Schicksal. Kaum das ich hinausgestiegen war, hörte ich wieder die dumpfen Schritte, dieses Mal wohl im Nachbarzimmer. Kurz darauf erneut ersticktes Gurgeln und Schreie. Ich wollte garnicht wissen, welche Qualen meine Klassenkameraden gerade erlitten. Eine Klassenfahrt in eine Hütte im tiefsten Wald, welcher umringt war von hohen Bergen, fernab von jeglicher Zivilisation, Essen mussten wir uns selbst zubereiten. Wunderschön. Dachte ich jedenfalls, und bis eben war es das auch noch. In diesem Moment dachte ich nicht daran, wohin ich gehen sollte oder was nach meiner Flucht kommt, meine Gedanken kreisten nur um die Grauen innerhalb des Gebäudes und einen Fluchtplan. Möglicherweise wäre ein schneller Tod doch besser als ein qualvolles Verhungern, jedoch klangen die Geräusche einerseits nicht unbedingt nach schnell und andererseits hätte das Aufgeben bedeutet, und das konnte ich wohl noch nie. Nicht unbedingt eine gute Eigenschaft, vorallem in Diskussionen nicht, aber doch nützlich, in Momenten wie diesen.

Ich könnte jetzt entweder geradeaus in den Wald rennen, mit dem Risiko, von was-auch-immer-dort-gerade-sein-Unwesen-trieb gesehen zu werden, oder mich an der Hauswand entlang zur Front des Hauses zu schleichen, an welcher keine Fenster waren und von dort aus in den Wald. Funktionierte soetwas überhaupt im echten Leben oder nur in Filmen? Ich hatte keine Ahnung. Wenn es aus dem Fenster sehen würde, sähe es mich sofort, auf beiden Wegen. Jedoch würde ich länger zu sehen sein, wenn ich geradewegs in den Wald laufe. Also zur Frontseite des Hauses. Hoffentlich geht das gut. Langsam schob ich mich an der Wand entlang, als ich einen Körper vor mir aus dem Fenster hängen sah. Kurz hatte ich Angst, es wäre der Mörder, aber die Sorge war unberechtigt, da die Gestalt bei näherer Betrachtung... nicht unbedingt lebendig aussah. Genau genommen  sah sie mehr als tot aus, dem aufgeschlitzen Hals nach zu urteilen. Man sah sogar... Ach, die Details will ich euch ersparen, es sah jedenfalls nicht schön und bestimmt nicht hoffnungserweckend aus. Es wirkte ganz so, als wäre die Person, die ich nicht noch näher anschauen wollte, aus Angst ich würde sie als eine meiner Freunde erkennen, beim Versuch aus dem Fenster zu fliehen zu langsam gewesen. Es wäre mit Sicherheit mein Schicksal gewesen, hätte ich meiner Zimmernachbarin geholfen. Oder sogar schlimmeres. Diesen Gedankengang wollte ich nicht unbedingt vertiefen, zumal ich ja noch nicht außer Gefahr war. Als ich weiterschlich, hörte ich einen nicht mehr ganz so erstickten Schrei, der abrupt verstummte. Das dürfte dann wohl Ellen gewesen sein. Scheiße. Ich konnte ihr nicht helfen, jetzt sollte ich erstmal dafür sorgen das wenigstens meine Wenigkeit es hier lebend wegschafft, was alleine schon schwer genug sein dürfte. Endlich war ich an der Front der Hütte angelangt. Dort stand, neben den paar Fahrrädern meiner Klasse eine große Kutsche. Es waren zwei Pferde angespannt, beiden waren die Augen mit einem breiten schwarzen Tuch verbunden. Wieso, weshalb, warum, war mir in diesem Moment ziemlich egal, da ich vermehrte Schreie aus der Hütte hörte. Vielleicht hat Ellens Lärm ja die anderen aufgeweckt. Das wäre gut, möglicherweise gäbe es dann noch andere Überlebende am Ende des Tages. Aber es herauszufinden war zu riskant. Vielleicht würden sie versuchen, den Mörder zu überwältigen, ja verdammt, vielleicht würden sie es sogar schaffen. Aber wenn nicht, und ich umkehre, wären meine Bemühungen am Leben zu bleiben umsonst und ich aufgeschmissen. Also weiter. In einem Bogen um die Pferde herum, in den Wald und dann weiter. Immer weiter.

Ich würde eine Siedlung finden, wenn ich nur lange genug durchhalte, die Polizei anrufen und nach Hause gebracht werden. Zuhause...Wo war das noch gleich? Alle würden sich freuen mich zu sehen und eine Party schmeißen. Dann würde ich an eine anerkannte Universität gehen, eine berühmte Wissenschaftlerin werden und in die Geschichtsbücher eingehen, weil ich irgendwas bahnbrechendes geleistet habe. Dann würde ich eine Familie gründen, ein Buch über mein Leben schreiben und friedlich sterben, irgendwo in meinem Haus am Meer, fernab von diesem Platz.

So jedenfalls in der Theorie, in der Realität wird vermutlich nichts davon wahr. Ich werde in diesem Wald jämmerlich verhungern und verdursten, niemand wird je erfahren was mit mir passierte und im Endeffekt wird es auch niemanden kümmern. Aber wenn es eine Chance gibt, zu überleben, und sei sie auch noch so klein, dann werde ich sie ergreifen! Du wirst das schon irgendwie schaffen, Mel!

Überleben? Um jeden Preis!Where stories live. Discover now