1. Das merkwürdigste Vorstellungsgespräch, das ich je hatte

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Ich starre aus dem Fenster und beobachte die sich verändernde Landschaft. Vor einer Stunde bin ich in diesen Bus in meinem − man könnte sagen: nicht so beliebten − Viertel eingestiegen. Nach und nach verbessert sich der Zustand der Häuser, die der Bus passiert, und schließlich wird der Anblick von mehr Bäumen, Büschen und schönen Gärten abgelöst. Ich höre die Ansage, dass die nächste Haltestelle meine ist, und wische mir meine leicht verschwitzten Hände an der dunklen Hose ab.

Als der Bus quietschend hält, steige ich mit der Bewerbungsmappe unter dem Arm aus und sehe mich um. Die lange Straße ist gesäumt von hohen Hecken und Bäumen hinter einem bestimmt drei Meter hohen Stahlzaun. Laut meiner Recherche im Internet ist die Adresse, zu der ich bestellt bin, nur wenige Meter von der Bushaltestelle entfernt und nach einigem Suchen entdecke ich ein Tor in dem Zaun.

Nachdem ich geklingelt habe, signalisiert mir ein Summen, dass ich das Tor aufdrücken kann. Zwischen hohen Bäumen gehe ich eine lange Einfahrt entlang und hinter einer Kurve erstreckt sich das größte Privatanwesen, das ich je gesehen habe.

Ich schlucke und bewege mich auf den Eingang zu. Erneut wische ich meine Hand an meiner Hose ab und drücke auf den goldenen Klingelknopf neben der Tür. Von innen ist kein Ton zu hören und ich stehe da und warte. Nach etwa einer Minute blicke ich nervös auf meine Uhr.

Ich bin zehn Minuten zu früh, habe ich mich vielleicht im Datum geirrt?

Die Eingangstür wird aufgerissen und ich trete erschrocken einen Schritt zurück. Vor mir steht ein großgewachsener Mann, etwa in meinem Alter. Er trägt ein weißes Hemd und einen dunkelblauen, offensichtlich maßgeschneiderten, Anzug, der seine blauen Augen betont, die mich unter seinen ungebändigten schwarzen Haaren anstarren.

»Ja?«, fragt er barsch.

Ich räuspere mich und stammle: »H-Hallo, mein Name ist Gabriel Boyle. Ich habe einen Termin bei Mr. Warner.«

Mit einem entnervten Augenrollen sieht er auf seine Armbanduhr, die vermutlich mehr wert ist, als ich im ganzen letzten Jahr verdient habe. »Ach ja. Kommen Sie rein.«

Schwungvoll dreht er sich um, geht zurück ins Haus und ich muss die Tür mit einer Hand abfangen, damit sie mir nicht vor der Nase zuschlägt. Schnell betrete ich das Haus, schließe die Tür leise hinter mir und bleibe stehen.

Der große Mann durchquert die Eingangshalle – und ja, es ist eine Halle. Wenn ich etwas rufen würde, könnte ich vermutlich mein Echo hören. Er geht nach links auf eine Tür zu, öffnet sie und sieht mich mit erhobenen Augenbrauen an. »Wollen Sie den ganzen Tag dastehen?«

Verlegen schüttle ich den Kopf und folge ihm.

Wir betreten einen Raum, der offenbar als Arbeitszimmer und Bibliothek dient, und ich muss kurz aufpassen, nicht mit offenem Mund zu staunen, als ich die ganzen Bücher sehe.

Der Mann im Anzug setzt sich an einen großen Mahagonischreibtisch und deutet mit seiner Hand zu dem Stuhl, der davorsteht.

Zögerlich nehme ich Platz und halte meine Bewerbungsmappe auf meinem Schoß fest.

»Gabriel Boyle ...«, sagt er und zieht einen Zettel hervor.

Offenbar ein Ausdruck meiner Online-Bewerbung.

Oh, das muss der Mr. Warner sein, mit dem ich den Termin habe.

»J-ja«, stammle ich. »Mr. Warner, schön, Sie kennenzulernen.« Ich stehe auf und halte ihm meine Hand hin, doch er sieht nicht einmal auf. Rasch setze ich mich wieder und hoffe, dass mein Gesicht nicht so rot ist, wie es sich anfühlt. »I-ich habe meine Unterlagen auch noch hier–«

Working Hard - Don't fall for your boss [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt