Kapitel 1

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"Sam, kommst du bitte, wir wollen los ins Krankenhaus" , ruft meine Mutter von unten hoch, während ich am Schreibtisch sitze und meine Hausaufgaben mache. Den ganzen Tag schon hatte ich darauf gewartet, dass wir losfahren zu Papa , weswegen ich mich sofort auf den Weg nach unten mache und mich anziehe. Mama und ihre beste Freundin Elise warten schon am Auto.

"Hi Elise", sage ich, schnalle mich an und wir fahren los. Elise kennt mich seit ich geboren bin und ist quasi wie meine richtige Tante. Mama ist schon mit ihr zusammen zur Schule gegangen und auch heute sind die beiden noch unzertrennlich. Ob ich auch mal Freunde haben werde, die ich aus der Schulzeit kenne, wenn ich älter bin? Marian und Elias kenne ich auch seit der ersten Klasse, aber mit Elias unternehme ich nicht mehr so oft etwas, weil wir jetzt in unterschiedliche Klassen gekommen sind.

Ich lasse meine Gedanken schweifen, während ich aus dem Fenster gucke. Es ist Herbst, Ende Oktober und die Blätter verabschieden sich langsam von den Bäumen. Vielleicht gibt es ja dann bald endlich Schnee.

"Du Mama, wann fängt es eigentlich wieder an zu schneien?", frage ich.

"Das weiß ich nicht, aber es dauert bestimmt nicht mehr allzu lange", antwortet sie.

"Achso, ok. Meinst du, der Papa ist dann auch an Weihnachten wieder bei uns und wir können zusammen Schneemänner bauen, so wie letztes Jahr?"

Meine Mutter und Elise schauen sich an und ich sehe ein leichtes kurzes Lächeln auf den Lippen meiner Mutter.

"Das hoffe ich, mein Schatz. Vielleicht geht es dem Papa ja auch wieder besser."

Ich lehne mich an die Fensterscheibe und schaue weiter aus dem Fenster. Jedes mal, wenn ein Auto vorbeifährt, hört man das Wasser auf der Strasse Platschen und an die Scheibe prasseln.

Los kleiner Regentropfen, du schaffst das, schneller! Gleich bist du da. Immer auf langen Fahrten beobachtete ich die Regentropfen an der Scheibe und feuerte sie wie bei einem Wettkampf an, welcher schneller das Ende der Scheibe erreicht.

Endlich sind wir da. Ich freue mich, endlich meinen Vater wiederzusehen. Dann kann ich ihm endlich von meiner eins in Mathe erzählen und wie wir im Sportunterricht Fußball gespielt haben und ich drei Tore gemacht habe. Er wird sich bestimmt freuen und stolz auf mich sein.

"Papa!", rufe ich und er dreht seinen Kopf leicht in meine Richtung und lächelt. Seine Arme sind ganz dünn geworden und er hat ganz viele Kabel überall; das ist bestimmt voll blöd, wenn man sich damit nicht mehr so bewegen kann und bei allem Hilfe von einer Krankenschwester braucht.

"Mein Großer", erwidert er.

Mama und Elise schauen sich an.

"Weißt du was? Ich habe eine eins in Mathe bekommen und im Fußballspiel drei Tore gemacht und wir haben gewonnen! Das war so cool!"

"Ich bin stolz auf dich", antwortet er.

Mama setzte sich neben Papa ans Bett und nimmt seine Hand. Das ist immer total komisch, wenn sie mit ihm redet und dann Thorsten sagt. Für mich heißt mein Papa "Papa" und nicht Thorsten.

"Wie geht es dir ?", fragt sie ihn und er antwortet leise.

"Mach dir keine Sorgen, Schatz, es geht mir schon viel besser" und lächelt. Seine Stimme ist rau und kratzig.

Ich hoffe, dass es ihm bald besser geht und er dann endlich wieder Zuhause bei uns ist.

"Papa, wann kommst du denn wieder nach Hause?"

Bevor er etwas sagen kann, kommt ein Arzt mit einer Krankenschwester ins Zimmer und gucken meine Mutter an.

"Komm mal mit Sam, wir gehen dir erstmal einen Kakao holen, damit du dich aufwärmen kannst.", fordert Elise mich auf und nimmt mich an die Hand, um mit mir eine Runde durch das Krankenhaus zu gehen.

Ich höre noch ein Piepen aus dem Zimmer, bis wir um die Ecke gehen.

"Papa geht es doch bestimmt bald besser , oder ?", frage ich sie.

"Das hoffen wir alle", antwortet sie.

Traurig gucke ich auf den Boden. Ich habe Angst. Was, wenn Papa stirbt? Dann sind Mama und ich ganz alleine. Ich will das nicht.

Als wir wieder auf das Zimmer gehen, sehe ich, wie Mama vor dem Bett sitzt und weint. Sie hält immer noch Papas Hand. Die Krankenschwester kniet neben ihr.

"Was ist los?", frage ich sie und sie schaut mich mit roten verweinten Augen an.

"Schatz, dem Papa geht es nicht gut, es geht ihm sehr schlecht und der Arzt hat gesagt, dass wir uns von ihm verabschieden müssen."

Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen steigen und ich bekomme kein Wort mehr heraus.

"Aber, aber...", stammele ich vor mich hin und Elise legt ihren Arm um uns beide. Keiner sagt etwas und mir laufen die Tränen über das ganze Gesicht.

"Du darfst nicht gehen, Papa. Ich hab dich lieb und ich brauche dich doch. Bitte werd' wieder gesund.", schluchze ich vor mich hin.

"Komm mit Sam, wir lassen die Mama etwas alleine", sagt Elise und wieder verlassen wir das Zimmer. Auf dem Weg fängt uns der Arzt ab, der immer bei Papa ist.

"Kommen Sie Sie doch bitte kurz mit ", meint er und wir folgen ihm in sein Büro. Immer noch rollen mir Tränen übers Gesicht und Elise sagt kaum ein Wort.

"Es ist wichtig, dass Sie und du Sam, deiner Mutter gerade etwas Zeit lassen mit deinem Papa. Es tut mir wirklich sehr leid, aber der aktuelle Stand ist sehr schlecht, es haben sich weitere Metasthasen gebildet und sämtliche Organe sind betroffen. Wir können nichts mehr für ihn tun und rechnen damit, dass er die Nacht nicht mehr übersteht. "

Ich fange an zu zittern und möchte am liebsten weg rennen. Der Arzt redet mit Elise und ich bekomme kaum noch etwas mit, alles vor meinen Augen verschwimmt und mehr als Elise's Hand auf meinem Rücken, merke ich nicht.

Mama bleibt die Nach bei Papa im Krankenhaus und ich fahre mit Elise nach hause. Ich darf vorne sitzen, aber ich kann mich nicht freuen und gucke aus dem Fenster. Der Regen fällt, die Sonne ist untergegangen, alles ist dunkelgrau. Die Autos vor mir verschwimmen nur und ich weiß nicht, ob ich überhaupt was denke.

Zuhause angekommen, gehe ich auf mein Zimmer und lege mich in mein Bett. Hoffentlich wird er wieder gesund.

Es klopft an meiner Tür und Elise steht in meinem Zimmer.

"Wenn du etwas, brauchst, sag mir Bescheid. Egal, was es ist. Ich bin in der Küche und warte hier."

Ich sage nichts. Ich kann nicht reden und drehe mich wieder weg. Ich kann nicht aufhören zu weinen und schlafe irgendwann ein.

Plötzlich werde ich wach, mein Arm tut furchtbar weh. Ich setze mich auf und mache das Licht an. Es ist nichts zu sehen.

"Sam?", höre ich Elise's Stimme im Raum. Sie kommt auf mich zu und setzt sich zu mir auf's Bett. Erwartungsvoll schaue ich sie an.

"Deine Mama hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass dein Papa eingeschlafen ist. Ihm geht es jetzt besser."

Ich kann es nicht fassen. Ich starre einfach nur in die Luft. Sie legt ihren Arm um mich und ich habe das Gefühl, als könnte ich nicht mehr atmen, als würde man mir meinen Hals zuschnüren.

Sämtliche Erinnerungen schießen mir in den Kopf. Wie wir zusammen Fußball gespielt haben, ich auf seinen Schultern saß, wir gemeinsam den Weihnachtsbaum geschmückt haben, jedes Jahr, seit ich denken kann und wie wir immer, wenn er mir Süßigkeiten gab, sagte "aber sag das nicht der Mama, das ist unser Geheimnis" und mir dabei zuzwinkerte und lächelte. Ich bin stolz auf dich. Mein Großer. Die Worte höre ich immer wieder in meinem Kopf. Die letzten.


Die Farben von Liebe Where stories live. Discover now